Russisches Poker
lenken. Von der redet ja ganz Moskau. Kann sein, daß mir zu dem Monat Arrest noch eine Kirchenbuße auferlegt wird. Macht nichts, ich werde meine Sünde abbeten.«
Er bekreuzigte sich fromm und zwinkerte Anissi zu.
Fandorin ruckte mit dem Kinn, als drückte ihn der Kragen, dabei stand sein weißes Hemd mit der orientalischen Stickerei weit offen.
»Sie vergessen Ihre Spießgesellin. Sie ist mit der Lotterie kräftig auf die Nase gefallen. Ich glaube nicht, daß sie bereit sein wird, ohne Sie ins Gefängnis zu gehen.«
»Ja, Mimi liebt Gesellschaft«, stimmte der Arrestant zu. »Ich bezweifle nur, daß sie noch friedlich in Ihrem Käfig sitzt. Herr Eunuch, erlauben Sie mir noch einen Blick auf den Schlüssel.«
Anissi sah zu seinem Chef hinüber, nahm den Schlüssel fest in die Hand und zeigte ihn dem Gauner von weitem.
»Ja, ich habe recht.« Momus nickte. »Ein einfaches und vorsintflutliches Schloß Marke ›Großmutters Truhe‹. Das kriegt Mimi sekundenschnell mit einer Haarnadel auf.«
Der Hofrat und sein Assistent sprangen gleichzeitig auf. Fandorin rief Masa etwas auf japanisch zu, wahrscheinlich»nicht aus den Augen lassen« oder so. Der Japaner packte Momus bei den Schultern. Was weiter geschah, sah Anissi nicht, denn er sprang schon zur Tür hinaus.
Sie liefen die Treppe hinunter und stürmten durch das Vestibül, vorbei an den erschrockenen Gendarmen.
Da, die Tür zum Zimmer von Tarik Bei stand sperrangelweit offen. Das Vögelchen war ausgeflogen!
Stöhnend, als hätte er Zahnschmerzen, sauste Fandorin zurück ins Vestibül, Anissi hinterher.
»Wo ist sie?« blaffte der Hofrat den Wachtmeister an.
Der riß den Mund auf vor Verblüffung, daß der indische Prinz plötzlich reinstes Russisch sprach.
»Antworte gefälligst!« schnauzte Fandorin ihn an. »Wo ist das Mädchen?«
»Na ja …« Der Wachtmeister stülpte sich für alle Fälle den Helm auf und salutierte. »Vor fünf Minuten gegangen. Und sie hat gesagt, ihre Begleiterin bleibt noch.«
»Vor fünf Minuten!« wiederholte Fandorin nervös. »Tulpow, ihr nach! Und Sie halten die Augen offen!«
Sie eilten die Freitreppe hinab, liefen durch den Garten, sprangen durchs Tor.
»Ich rechts, Sie links!« gebot der Chef.
Anissi humpelte die Mauer entlang. Der eine Pantoffel war gleich im Schnee steckengeblieben, und er mußte auf einem Fuß hüpfen. Dann war die Gartenmauer zu Ende, vorn waren das weiße Band der Straße, schwarze Bäume und Sträucher. Keine Menschenseele. Tulpow drehte sich auf dem Fleck wie ein frischgeköpftes Huhn. Wo suchen? Wohin laufen?
Unterhalb des Steilufers, jenseits des zugefrorenen Flusses,lag wie in einer riesigen schwarzen Schale die gigantische Stadt. Sie war fast unsichtbar, nur da und dort zogen sich spärliche Ketten von Straßenlaternen hin, aber die Schwärze war nicht leer, sondern spürbar lebendig – etwas da unten atmete schläfrig, seufzte, stöhnte. Wind kam auf, blies weißen Staub über die Erde, und Anissi in seinem dünnen Chalat fror bis aufs Mark.
Er mußte zurück. Vielleicht hatte Fandorin mehr Glück gehabt?
Sie trafen sich beim Tor. Der Chef war leider auch allein zurückgekehrt.
Vor Kälte zitternd, liefen die beiden »Inder« ins Haus.
Sonderbar – die Gendarmen waren nicht auf ihrem Posten. Dafür tönten von oben, aus dem ersten Stock, Flüche, Gepolter und Geschrei.
»Verdammt!« Fandorin und Anissi, ohne verpustet zu haben, stürmten Hals über Kopf die Treppe hinauf.
Das Schlafzimmer war verwüstet. Die zwei Gendarmen hingen an den Schultern des wutschäumenden Masa, und der Wachtmeister zielte, mit dem Ärmel roten Rotz abwischend, mit dem Revolver auf den Japaner.
»Wo ist er?« fragte Fandorin und sah sich um.
»Wer?« fragte der Wachtmeister und spuckte einen Zahn aus.
»Der Pikbube!«schrie Anissi. »Na, die alte Vettel!«
Masa sprudelte etwas in seiner Sprache hervor, aber der Wachtmeister stieß ihm die Mündung in den Bauch.
»Halt’s Maul, Heide! Also, Euer …« Der Wachtmeister stockte und wußte nicht, wie er den komischen Vorgesetztenanreden sollte. »Also, Euer Indigkeit, wir stehen unten, halten die Augen offen wie befohlen, da schreit von oben ein Weib: ›Hilfe‹, schreit sie, ›Mörder! Helft mir!‹ Wir sind gleich hier herauf und kucken, da hat doch dieser Schlitzäugige das alte Muttchen, das mit dem Fräulein gekommen ist, zu Boden geworfen und am Hals gepackt. Die Ärmste schreit: ›Hilfe, ein chinesischer Einbrecher hat mich
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