Russisches Poker
schwelgenden Sekretär zur Besinnung: »On sonne! Qu’est que c’est?« 5
Anissi fuhr hoch, erinnerte sich an alles und befreite sich aus der weichen und doch erstaunlich klammernden Umarmung.
Das Signal! Die Falle war zugeschlagen!
Ach, wie schade! Doch wie hatte er nur seine Pflicht vergessen können!
»Pardon«, murmelte er. »Tout de suite!« 6
Er tastete im Dunklen nach seinem Chalat, scharrte mit den Füßen nach den Pantoffeln und stürzte zur Tür, ohne die hartnäckige Stimme zu beachten, die immerzu irgendwelche Fragen stellte.
Er sprang in den Korridor, schloß die Tür und drehte den Schlüssel zweimal herum. So, nun konnte das Vögelchen nicht entflattern. Das Zimmer hatte Eisengitter an denFenstern. Als der Schlüssel im Schloß knirschte, bekam sein Herz einen Kratzer, aber Pflicht ist Pflicht.
Anissi schlurfte mit seinen Pantoffeln den Korridor entlang. Auf dem oberen Treppenabsatz griff der zum Fenster hereinschauende Mond eine entgegeneilende weiße Gestalt aus der Dunkelheit. Ein Spiegel!
Anissi blieb stehen, versuchte, in der Dunkelheit sein Gesicht zu erkennen. Was denn, das sollte er sein, Anissi, Sohn eines Diakons, Bruder der schwachsinnigen Sonja? Nach dem glücklichen Glanz der Augen zu urteilen (sonst sah er nichts), war das nicht er, sondern ein ganz anderer Mensch, den Anissi nicht kannte.
Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer von »Achmed Chan« und hörte die Stimme Fandorins: »Sie werden sich für alle Ihre Streiche verantworten, Herr Spaßvogel. Für die Traber des Bankiers Poljakow, für den ›Goldbach‹ des Kaufmanns Patrikejew, für den englischen Lord, für die Lotterie. Und natürlich auch für Ihren zynischen Ausfall gegen mich und dafür, daß ich mich Ihretwegen schon seit fünf Tagen mit Nußsaft einschmieren und den blöden Turban tragen muß.«
Anissi wußte bereits: Wenn der Hofrat nicht mehr stotterte, war das ein schlechtes Zeichen, dann war er entweder hochgradig angespannt oder aber bitterböse. Diesmal traf wohl das letztere zu.
Im Schlafzimmer war folgendes Bild.
Die bejahrte Georgierin saß auf dem Fußboden neben dem Bett, ihr gewaltiger Zinken war seltsam zur Seite gerutscht. Hinter ihr stand, die dünnen Augenbrauen wütend gerunzelt und die Hände kriegerisch in die Hüften gestemmt, der JapanerMasa, bekleidet mit einem langen Nachthemd. Fandorin saß in der Ecke in einem Sessel und klopfte mit einer nicht angezündeten Zigarre auf die Armlehne. Sein Gesicht war leidenschaftslos, seine Stimme klang träge, hatte aber einen so donnergrollenden Unterton, daß Anissi erschauerte.
Der Chef drehte sich nach dem eingetretenen Assistenten um und fragte: »Na, was macht das Vögelchen?«
»Sitzt im Käfig«, rapportierte Anissi zackig und schwenkte den Schlüssel mit dem doppelten Bart.
Die schiefnasige »Duena« blickte auf die triumphierend erhobene Hand des Sekretärs und schüttelte skeptisch den Kopf.
»Ah, der Herr Eunuch«, sagte sie in einem so schallenden Bariton, daß Anissi zusammenzuckte. »Die Glatze steht Ihnen.« Und die alte Hexe streckte ihm die Zunge heraus.
»Ihnen der Weiberputz auch«, fauchte Anissi beleidigt zurück und griff unwillkürlich nach seinem kahlen Kopf.
»B-Bravo«, lobte Fandorin die Schlagfertigkeit seines Assistenten. »Und Ihnen, Herr Pikbube, rate ich, hier nicht so aufzutrumpfen. Ihre Aktien stehen schlecht, denn diesmal haben wir Sie auf frischer Tat ertappt.«
Drei Tage nachdem die »Fürstin Tschchartischwili« in Begleitung der Duena zum Spaziergang erschienen war, hatte Anissi verwirrt zu Fandorin gesagt: »Sie sagten, Chef, es seien nur zwei, der ›Pikbube‹ und das Mädchen, aber nun ist ja noch die alte Frau aufgetaucht.«
»Sie sind selber eine alte Frau, Tulpow«, hatte der »Prinz« lässig erwidert und sich höflich vor einer entgegenkommenden Dame verbeugt. »Das ist doch er, unser Momus.Virtuos maskiert, nichts dagegen zu sagen. Nur seine Füße sind ein bißchen groß für eine Frau, und der Blick ist zu hart. Er ist es, mein Lieber, er und kein anderer.«
»Nehmen wir ihn fest?« hatte Anissi voller Eifer geflüstert und so getan, als klopfe er Schnee von der Schulter seines Herrn.
»Mit welcher Begründung? Das Mädchen war zwar bei der Lotterie, dafür gibt es Zeugen. Aber den Pikbuben kennt doch niemand von Angesicht. Wofür ihn verhaften? Weil er sich als alte Frau verkleidet hat? Nein, auf den warte ich schon so lange, nun soll er mir in die Falle gehen. Am Ort des Verbrechens,
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