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Russisches Poker

Russisches Poker

Titel: Russisches Poker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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staatliche Obhut zu geben?«
    Eine solche Informiertheit über seine häuslichen Umstände hätte Anissi nicht erwartet, aber da er ohnehinfassungslos war, wunderte er sich weniger, als es angezeigt gewesen wäre.
    »In staatliche Obhut, das geht nicht«, erklärte er. »Dort würde sie hinsiechen. Das Dummchen ist sehr an mich gewöhnt.«
    Und da erschütterte Fandorin ihn vollends.
    »Ich beneide Sie«, sagte er seufzend. »Sie sind ein glücklicher Mensch, Tulpow. In so jungen Jahren haben Sie schon etwas, worauf Sie stolz sein k-können. Gott hat Ihnen fürs ganze Leben einen Angelpunkt gegeben.«
    Anissi war noch dabei, den Sinn dieser seltsamen Worte zu ergründen, da fuhr der Hofrat schon fort: »Um die Schwester brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Für die Dauer der Untersuchung stellen Sie eine Pflegerin ein, natürlich auf Staatskosten. Ab sofort halten Sie sich bis zum Abschluß des Falls ›Pikbube‹ zu meiner Verfügung. Wir werden zusammenarbeiten. Ich hoffe, Sie werden sich nicht l-langweilen.«
    Da ist sie, die unerwartete Freude, dachte Anissi plötzlich. Da ist es, das Glück!
    Danke, weiße Taube!

Lebenswissenschaft nach Momus
    Seinen Namen hatte er in den letzten Jahren so oft gewechselt, daß er den Namen, mit dem er zur Welt gekommen war, schon fast vergessen hatte. Er selbst nannte sich seit längerem Momus.
    »Momus«, das ist der altgriechische Spötter und Meckerer, Sohn der Nyx, der Göttin der Nacht. In dem Wahrsagespiel »Ägyptische Pythia« ist es der Name des Pikbuben, einer bösen Karte, die eine Begegnung mit einem höhnischen Dummkopf oder einen üblen Scherz der Fortuna verheißt.
    Momus liebte die Karten und schätzte sie hoch, aber an die Wahrsagerei glaubte er nicht. Für ihn hatte der gewählte Name einen ganz anderen Sinn.
    Jeder Sterbliche spielt bekanntlich Karten mit dem Schicksal. Die Verteilung der Karten hängt nicht vom Menschen ab, sie ist reine Glückssache: Der eine bekommt nur Trümpfe, der andere Zweien und Dreien. Momus hatte von der Natur mittlere Karten bekommen, man kann sagen, ein Mistblatt, Zehnen und Buben. Doch ein guter Spieler weiß auch damit zu kämpfen. Momus sah sich selbst mit nüchternen Augen: Ein As war er nicht, auch kein König, aber auch keine Lusche. Also ein Bube. Wiederum kein langweiliger Kreuzbube,auch kein wohlanständiger Karobube oder, Gott behüte, ein sabbernder Herzbube, nein, ein besonderer, der Pikbube.
    In früher Kindheit hatte die Redensart von den zwei Hasen Momus keine Ruhe gelassen. Warum, so fragte er sich, kann man nicht zwei auf einmal fangen? Warum sollte man auf einen verzichten? Der kleine Momus (damals noch nicht Momus, sondern Mitja Sawwin) wollte sich damit nicht abfinden. Und er behielt recht. Die dumme Redensart war etwas für Faule und Stumpfsinnige. Momus hatte schon mit einem Schlag nicht nur zwei, sondern mehrere graue Langohren erwischt. Dafür hatte er seine eigene psychologische Theorie.
    Viele Wissenschaften haben Menschen sich ausgedacht, die meisten nützen dem Normalbürger gar nichts, aber die Leute schreiben Abhandlungen, Magister- und Doktorarbeiten, werden Mitglieder von Akademien. Momus hatte schon von klein auf mit der Haut, den Knochen, der Milz gefühlt, daß die wichtigste Wissenschaft nicht die Mathematik oder so was wie Latein war, sondern die Fähigkeit zu gefallen . Das war der Schlüssel, der jedes Türchen öffnete. Sonderbar nur, daß diese oberste Wissenschaft von Erziehern und Gymnasiallehrern nicht gelehrt wurde. Ihre Gesetze mußte jeder selber ergründen.
    Das aber, wenn er’s recht bedachte, kam ihm durchaus entgegen. Das Talent für diese Wissenschaft hatte sich bei ihm früh gezeigt, und daß andere deren Vorzüge nicht erkannten – Gott sei gepriesen.
    Gewöhnliche Menschen urteilten so: Gefalle ich anderen – gut, gefalle ich ihnen nicht – was soll ich machen, mitGewalt wird man nicht beliebt. Doch, dachte der heranwachsende Mitja, wird man, und wie. Wenn man jemandem gefallen, einen Schlüssel zu ihm gefunden hat, gehört er einem, dieser Jemand, und man kann mit ihm machen, was man will.
    Gefallen kann man jedem, dazu gehört gar nicht so viel. Man muß nur herausbekommen, was für ein Mensch er ist: wofür er lebt, wie er die Welt sieht, wovor er Angst hat. Und hat man das begriffen, so kann man auf ihm wie auf einer Flöte jede Melodie spielen, eine Serenade oder auch eine Polka.
    Neun von zehn Menschen erzählen einem ganz von selbst alles, wenn man nur zuhört. Denn

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