Russisches Requiem
Schublade.« Babel erhob sich vom Fensterbrett und streckte die Arme. »Ich möchte noch ein wenig schreiben vor der Übung heute Nachmittag. Wer weiß, ob ich nach einer halben Stunde in einer Gasmaske überhaupt noch einen Stift halten kann.«
»Lieber eine Maske als eine Lunge voll Gift. Der Anblick von vergasten Menschen ist nicht schön, ich möchte so was nie wieder sehen.«
»Nein, aber die Faschisten werfen bestimmt keine Blumenkränze aus ihren Bombern, wenn es zum Krieg kommt. Wir müssen auf alles vorbereitet sein. Soviel ich höre, will Stalin die Metrostationen so tief wie nur möglich bauen, zum Schutz gegen Luftangriffe. Und wenn wir auf Bomben vorbereitet sind, dann sollten wir auch auf Gas gefasst sein.«
»Glauben Sie wirklich, dass sie kommen werden?«
»Sie sind schon unterwegs, mein Freund. In Madrid schießen wir auf sie, und sie schießen zurück, und das wird bestimmt nicht das Ende sein.« Er zuckte die Achseln. »Stalin rechnet jedenfalls damit und sorgt dafür, dass wir gerüstet sind.«
»Ja.« Koroljow dachte an den Mann aus Stahl, der von allen Genossen die gleiche Härte erwartete.
»Bis später.« Babel verließ das Zimmer.
Auf einmal spürte Koroljow jedes einzelne seiner zweiundvierzig Jahre. Die Vorstellung eines weiteren Krieges voller Schrecken und Not war wie ein Gewicht, das ihn auf die Matratze niederdrückte. Gegen die Deutschen und Österreicher war es schlimm genug gewesen, noch immer hatte er die Gesichter toter junger Männer vor Augen, zu denen auch er hätte gehören können. Tausende, bis zum Ende des Weltkriegs sogar Millionen und dann noch einmal so viele im Bürgerkrieg. Und jetzt mit den neuen Panzern und Bombern und Maschinengewehren, die in zwei Minuten ein ganzes Bataillon niedermähen konnten, würde es noch grauenvoller werden. Trotzdem würde er sich natürlich zum Dienst melden, wenn es so weit war. Er kannte seine Bürgerpflicht.
Danach war er wohl eingenickt, denn auf einmal stand Walentina Nikolajewna in der Tür, und die fahle, durch das offene Fenster einfallende Sonne verwandelte ihr Haar in Gold.
Sie sah aus, als wäre sie einem Kinoplakat entstiegen. »Wie fühlen Sie sich?«
»Schon besser. Dieses Herumliegen bin ich nicht gewöhnt. Aber ich glaube, jetzt kann ich aufstehen.«
»Gut, ich bringe Ihnen Tee vom Samowar. Ihr Kollege Semjonow ist auf dem Weg hierher. Oberst Gregorin hat ebenfalls angerufen. Er hofft, dass es Ihnen bald bessergeht.«
»Danke.« Koroljow fragte sich, was Gregorin wohl dazu sagte, dass er seine Marionette nicht mehr an den Fäden hatte.
»Ach, ihr Männer. Von Zeit zu Zeit muss man sich eben um euch kümmern. Aber das macht mir nichts aus.« Lächelnd verließ sie das Zimmer.
Als sich die Tür geschlossen hatte, gestattete er sich die Vorstellung, Walentina Nikolajewna in den Armen zu halten. Wie zart und zugleich auch stark sie sich anfühlen würde! Bestimmt roch ihr Haar nach Blumen und ihre Haut nach frischem Brot.
Der Tee, den sie ihm brachte, bezeichnete den Wendepunkt. Er erhob sich vorsichtig und trat ans Fenster, erfreut, dass der Boden unter seinen Füßen nicht mehr schwankte. Mit verschränkten Armen blickte er in einen wolkenlosen blauen Himmel. Unten auf der Straße bildeten Frauen in lose sitzenden Schutzanzügen und schweren Gummihandschuhen eine lange Reihe mit Handkarren. Diese waren voll beladen mit einem weißen Pulver. Er fragte sich, was das für ein Pulver war. Nach seiner Erfahrung war die beste Maßnahme gegen Gas, so schnell wie möglich davonzurennen. Gegen Senfgas halfen auch die Masken nicht viel, das wusste er. Was immer sich hinter dem Zeug auf den Karren verbarg, er hoffte, dass es wirkte.
Als die Deutschen 1917 in der Nähe von Riga Senfgasgranaten auf die russischen Stellungen warfen, hatte sein Regiment in Reserve gelegen. Zuerst hatten die Truppen an einen Fehler der Angreifer geglaubt, als Hunderte von Granaten klatschend im Morast landeten, ohne zu explodieren. Der einzige Hinweis auf das kommende Unheil war ein leichter Knoblauchgeruch gewesen. Wenige Stunden später war jeder Zentimeter nackter Haut mit Blasen bedeckt. Und es wurde schlimmer, denn das Gas drang durch die Uniformen vor in die Leistengegend, in Achselhöhlen, zur Brust, zum Bauch - überallhin. Wer hätte sagen können, wie viele damals den Tod fanden? Tausende von erblindeten Soldaten waren laut um Hilfe flehend auf dem Schlachtfeld umhergeirrt. Die Deutschen erschossen sie wie die Ratten, und das waren
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