Russisches Requiem
Fallschirm nicht besonders weiß war, wie sich Semjonow mit einem Anflug von Enttäuschung erinnerte; eher grau nach den jüngsten Regen- und Schneefällen. Irgendwie wurde seit einiger Zeit alles in Moskau viel zu schnell schmutzig.
Eine Weile saßen sie schweigend da und lauschten dem vorbeidröhnenden Konvoi von Militärlastwagen.
Schließlich bewegte sich Semjonow unruhig auf seinem Stuhl. »Ich habe noch eine Botschaft für Sie. Heute Abend findet die Betriebsversammlung statt, und der General befiehlt, dass Sie nicht daran teilnehmen.« Die Worte hingen in der Luft wie schlechter Geruch.
»Was wird Ihrer Meinung nach passieren?« Koroljows Stimme klang in seinen Ohren wie die eines anderen.
»Schwer zu sagen. Der General besitzt großes Ansehen, aber Mendelejew ist ein Schandfleck für die Abteilung, und die Losung der Stunde heißt Wachsamkeit. Ich bin in diesen Dingen unerfahren, aber nach meinem Eindruck haben die Aktivisten Angst, dass alles außer Kontrolle gerät - Andropows Unfall hat die Leute schockiert. Zum Glück ist kein äußerer Druck spürbar, weder in die eine noch in die andere Richtung. Ich denke also, dass eine öffentliche Selbstkritik genügen wird. Aber schon beim nächsten Mendelejew würde sich die Situation verschlechtern.« Während er sprach, wirkte Semjonow auf einmal fünf Jahre älter, und seine Stimme sank um eine Oktave nach unten.
Koroljow war bekannt, dass sein Kollege ein Komsomol-Aktivist war, aber was er gerade gehört hatte, schien auf Informationen einer höheren Ebene zu beruhen. Er hatte seine Auffassung mit der nüchternen Klarheit und Zuversicht eines Eingeweihten vorgebracht. Koroljow dachte nicht im Traum daran, Semjonows Worte infrage zu stellen, aber er machte sich eine geistige Notiz, dass der junge Mann alles andere als naiv war, wenn es um Parteibelange ging.
»Und Sie, werden Sie dort sein?«
»Ja, ich wurde zum Komsomol-Vertreter für die Versammlung bestimmt. Gestern. Wenn es die Situation erfordert, werde ich den General unterstützen. Natürlich. Aber Sie müssen sich noch ein bisschen ausruhen. Sonst sind Sie morgen zu müde für das Spiel.« Semjonow lächelte. »Bestimmt geht alles gut aus, Alexei Dimitrijewitsch. Wann soll ich Sie abholen?«
»Das Spiel fängt um zwei an.«
»Und den Amerikaner nehmen wir mit?«
»Spricht nichts dagegen. Wir haben Gregorins Erlaubnis, und es ist unsere Pflicht, ihm die Überlegenheit des sowjetischen Sports gegenüber kapitalistischen Ländern zu beweisen. Babel kommt auch. Das wird bestimmt lustig.«
»Morosow meint, er kann uns einen Wagen geben.«
»Nehmen wir lieber die Straßenbahn. Damit er sich ein richtiges Bild machen kann.«
Semjonow seufzte über die verpasste Gelegenheit zum Fahren. »Also Straßenbahn. Ehrlich gesagt, war Morosow sowieso nicht begeistert. Ich glaube, er macht mich verantwortlich für den Ford. Der hätte diese Windschutzscheibe doch nie reparieren lassen, und bis Januar wären wir am Sitz festgefroren. So betrachtet, war es vielleicht gar nicht das Schlechteste.«
Nachdem Semjonow verschwunden war, saß Koroljow eine Weile in Gedanken versunken da. Dann stand er auf und fuhr mit dem Finger über die Rücken seiner kleinen Buchsammlung. Bei den verblichenen Goldlettern von
Ein Held unserer Zeit
verharrte er. Mit einem Gefühl angenehmer Vorfreude schlug er den Band auf und las die ersten Sätze.
Ich reiste mit Postpferden aus Tiflis. Das ganze Gepäck in meinem Wagen bestand aus einem kleinen Koffer, der zur Hälfte mit Reisenotizen über Georgien gefüllt war. Der größte Teil dieser Papiere ist zum Glück für Euch verlorengegangen, der Koffer dagegen ist mit den anderen Gegenständen zum Glück für mich erhalten geblieben.
Koroljow nickte befriedigt. Man konnte über Lermontow sagen, was man wollte, auf jeden Fall war er ein Mann, der etwas von seinem Handwerk verstand und wusste, wie man einen Roman begann.
22
Am nächsten Morgen erwachte Koroljow zur üblichen Zeit, erfrischt und fast wieder ganz der Alte. Draußen war es noch dunkel, aber er ließ das Licht noch aus. Stattdessen trat er ans Fenster. Die Straße war leer, und mit einer Mischung aus Bedauern und Erleichterung spürte er, wie der Fall zu einer Erinnerung wurde. Am Abend hatte Gregorin angerufen, ihm für seine Mühe gedankt und ihm alles Gute gewünscht. Damit war die Sache erledigt. Der Oberst hatte weder nach dem Bericht des Vortages noch nach Kolja gefragt und sich auch nicht zu Larinins
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