Russisches Requiem
probierte er es mit zwei Schritten hinüber zum Kleiderschrank.
»Jetzt sehen Sie noch mitgenommener aus. Soll ich Ihnen helfen?«
Koroljow musste sich selbst eingestehen, dass er all seine Konzentration aufbieten musste, um nicht zu würgen. Sprechen war ausgeschlossen, ebenso wie die kleine Kopfdrehung, die nötig gewesen wäre, um die aufdringliche Nervensäge mit einem vernichtenden Blick zu bedenken. So begnügte er sich mit einem schwachen Wackeln der Hand, um auszudrücken, wie lästig ihm der Schreiberling mit seinem Geschwafel war. Nach einem letzten Schritt klammerte er sich mit beiden Händen an den Schrank und ließ die Wange ein, zwei Sekunden auf dem glatten Holz ruhen. Der Lackgeruch belebte ihn, und allmählich kehrte ein wenig Kraft in seine Glieder zurück. Fürs Erste schien die Gefahr gebannt, die von seinem Magen ausging. Ächzend streifte er sich den Pullover über den Kopf und knöpfte die Hose auf, die prompt nach unten rutschte.
Er griff nach dem letzten sauberen Hemd, schob mit einiger Mühe die Arme durch die Ärmel und schaffte es, zumindest die meisten Knöpfe durch die passenden Löcher zu manövrieren. Dann lehnte er sich an die Wand, um unbeholfen wankend in die Beine einer frischen Hose zu fahren. Schließlich zog er sich die Hosenträger über die Schultern.
»Na also, das hätten wir.«
»Sie schauen zum Fenster raus.«
»Ich bin Schriftsteller. Solche Augenblicke interessieren mich. Ihr Gang, Ihre Gesichtsfarbe, wie Sie das Hemd angezogen haben. Das präge ich mir alles genau ein.«
Wieder hätte ihm Koroljow gern mit einem strafenden Blick die Brille an die Nase geschmolzen, aber im Moment überstieg das einfach seine Kräfte. Stattdessen ließ er sich auf den nächsten Stuhl niedersinken. »Also, was haben Sie herausgefunden?«
»Leider nicht sehr viel. Der Mann, mit dem ich gesprochen habe, kennt Mironows Namen. Aber er hat nur verlauten lassen, dass er zur Siebten Abteilung gehört und dass es zurzeit unklug wäre, Fragen über diese Abteilung zu stellen.«
»Die Siebte Abteilung?«
»Die frühere Auslandsabteilung.«
»Verstehe.« Über die Auslandsabteilung hatte Koroljow stets nur geflüsterte Gerüchte gehört. Sie war für die nachrichtendienstlichen Operationen der Sowjetunion im Ausland zuständig und berüchtigt für ihre Rücksichtslosigkeit und obsessive Geheimniskrämerei, die selbst den NKWD in den Schatten stellte. Aber interessant war es allemal. Die Auslandsabteilung verlor einen Mann in der gleichen Woche, in der eine amerikanische Emigrantin tot aufgefunden wurde und halb Moskau nach einer Ikone suchte, die offenbar außer Landes geschmuggelt werden sollte.
»Sie müssen wissen, dass eine Säuberungsaktion bevorsteht«, bemerkte Babel. »Eigentlich nichts Neues, aber die Tschekisten sind verdammt nervös.«
»Neulich wurde in der Petrowka-Straße eine Statue von Jagoda entfernt. Sie ging dabei zu Bruch.«
»Wie es heißt, steht Jagodas Verhaftung unmittelbar bevor. Angeblich sitzt er allein in seinem Büro, und sein Telefon klingelt nie. Wie ein Gespenst wandert er durch die Korridore des Ministeriums, ohne dass ihn jemand besucht. Dabei war das noch vor wenigen Wochen der meistgefürchtete Mann Russlands. Sein Sturz wird hohe Wellen schlagen, und die Cliquen innerhalb der Tscheka sind in Aufruhr, weil sie nicht mit in den Abgrund gerissen werden wollen. Und das bringt mich auf Gregorin.«
»Was haben Sie über ihn rausgefunden?«
»Nun, bei der georgischen Clique ist er nicht sehr beliebt, so viel steht fest, obwohl er selbst Georgier ist. Halb zumindest, sein Vater war Russe. Da gibt es böses Blut, möglicherweise ist er in Tiflis einigen Leuten auf die Zehen gestiegen. Außerdem war er ein Schützling Jagodas, und das ist nicht mehr förderlich. Aber Jeschow mag ihn anscheinend, vielleicht kommt er also mit heiler Haut aus der Sache raus, auch wenn sich die Georgier vermutlich durchsetzen. Sie stehen Stalin nahe, sie singen die gleichen Lieder. Also spricht vieles dafür, dass sie am Ende die Oberhand behalten.«
»Mir gegenüber hat er durchblicken lassen, dass er direkt für Jeschow arbeitet oder sogar für eine noch höhere Ebene.«
»Könnte sein, könnte durchaus sein. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass er momentan in keiner guten Position ist, wenngleich nicht unmittelbar bedroht. Anders gesagt, geht es ihm wie allen anderen auch.«
»Wieder Nachforschungen für die Schublade?«
»Sie sagen es - für eine äußerst geheime
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