Russisches Requiem
Straße nachjagte, und auch die knallende Peitsche des Fahrers, der sie zu vertreiben suchte. Selbst die Fabrikpfeifen, die die Arbeiter zur Schicht riefen, vermochten seine Nachtruhe nicht zu unterbrechen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren war er um sieben und auch um acht noch nicht munter. Er regte sich nicht einmal, als Walentina Nikolajewna die Tür behutsam öffnete und seinem sachten Schnarchen lauschte. Sie und Natascha beobachteten ihn eine Weile, wie Walentina ihm später erzählte, und ließen ihn dann weiterschlafen. Erst als Babel nach ihm schaute und ihn aus Neugier auf seine Reaktion ein wenig an der Schulter schüttelte, fuhr Koroljow jäh hoch und belohnte den Schriftsteller trotz halb geschlossener Augen mit der Nahansicht einer Pistolenmündung.
Babel setzte ein breites Grinsen auf. »Ich bin's doch nur, Alexei Dimitrijewitsch. Ist das eine Walther? Darf ich mal einen Blick darauf werfen? Wo haben Sie denn diese Kanone her? Vor vielen Jahren hatte ich auch mal so eine, aber die ist schon längst verschwunden. Tatsächlich, eine Modell 7 von 1917. Nach Kriegsende haben sie die Produktion eingestellt. Die Deutschen, meine ich. Eine Offizierswaffe. Kriegsbeute?«
»Von einem Polen.« Selbst in Koroljows eigenen Ohren klang sein tonloses Krächzen wie das Todesurteil für den Vorbesitzer.
Hastig reichte Babel die Waffe zurück und musterte nervös seine Hände, als würde das Blut des Toten daran kleben. »Gut geschlafen?« Der Schriftsteller drehte sich zu Walentina Nikolajewna um, die mit belustigter Miene in der Tür lehnte.
Koroljow steckte die Pistole zurück unters Kissen. Gähnend strich er sich über den Kopf. Da bemerkte er das Tageslicht in der Tür zum Gemeinschaftszimmer. »Wie spät ist es?«
»Kurz vor zehn.«
Ungläubig griff Koroljow nach seiner Uhr. Er presste sie ans Ohr, um sich zu vergewissern, dass sie noch tickte, und spürte das kalte Glas an seiner plötzlich warmen Wange. »Normalerweise schlafe ich nie so lange.«
»Nun, normalerweise versuchen Sie auch nicht, jemandem mit der Stirn den Kopf aufzuknacken. Das hoffe ich wenigstens.«
»Ah.« Walentina Nikolajewna verstand es, zugleich mütterliche Enttäuschung, Spott und leisen Tadel in diese eine Silbe zu legen.
»Es war Notwehr«, antwortete Koroljow.
»Sie meinen natürlich, er hat angefangen.« Missbilligend schüttelte sie den Kopf. »Ja, diese Ausrede kenne ich.«
Koroljow war versucht, die Decke über den Kopf zu ziehen und so zu tun, als wären seine Besucher nicht da. Ratlos blickte er um sich. »Hat man denn nirgends mehr seine Ruhe? Ich unterstütze das Kollektiv wie alle anderen, aber muss es seine Versammlungen wirklich in meinem Schlafzimmer abhalten?«
Walentina Nikolajewna lächelte über seine Verlegenheit und berührte salutierend ihre Stirnlocke, ehe sie die Tür hinter sich zuzog.
Koroljow wandte sich an Babel. »Und Sie? Hätten Sie vielleicht die Freundlichkeit, mich fünf Minuten allein zu lassen?«
»Natürlich.« Babel sank noch tiefer in den Stuhl, den er zum Bett gezogen hatte.
»Nun?«
Der Schriftsteller traf keine Anstalten, den Raum zu verlassen. »Was, nun? Wollen Sie hören, was ich Ihnen zu erzählen habe, oder nicht?«
Nach kurzer Überlegung deutete Koroljow zum Fenster. »Geben Sie mir wenigstens eine Minute, damit ich ein sauberes Hemd anziehen kann.«
»Sie sind schüchtern? Ich war auch bei der Armee, wissen Sie. In der Roten Kavallerie gibt es am Badetag keine Prüderie.«
»Schauen Sie wenigstens auf die Straße, ich bitte Sie, Isaak Emmanuilowitsch.«
Knurrend erhob sich Babel, ehe er betont widerstrebend ans Fenster trat.
Koroljow setzte die nackten Füße auf die Dielen. Seine Augen brauchten einen Moment, um den Perspektivenwechsel nachzuvollziehen.
Koroljows Bitten zum Trotz betrachtete Babel ihn voller Interesse. »Sie sind plötzlich ganz grau geworden. Äußerst faszinierend zu beobachten. Wirklich, einfach so. Und gerade waren Sie noch ganz rot im Gesicht.«
Mühsam fuchtelte Koroljow in die Richtung des Schriftstellers. »Mir geht es gut. Hauptsache, Sie schauen hinaus.«
Wenn er nicht aufpasste, würde der verdammte Autor in der
Nowy Mir
noch seinen schlaffen Hintern beschreiben. Außerdem hatte ein Bürger wirklich Anspruch darauf, wenigstens ein paar Momente allein gelassen zu werden, Wohnungsnot hin oder her. Er streckte die Hand nach dem Stuhl aus und spürte, wie ihm das Blut in die Zehen sackte, als er sich daran hochzog. Nach kurzer Pause
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