Russisches Requiem
Albernheit ärgern. »Hoffentlich verzeihen Sie mir, wenn ich das so offen ausspreche. Aber es macht mich nervös, dass Sie die Wohnung mit uns teilen. Was ist, wenn mir im Zorn etwas herausrutscht? Verstehen Sie? Natascha mag Sie, warum, weiß ich nicht. Vielleicht, weil sie Ihnen geholfen hat. Aber mich macht es eben nervös. Ich komme mir vor, als würde ich die ganze Zeit beobachtet.«
»Ich bin Kriminalbeamter, kein Tschekist. Bloß ein schlichter Milizionär.«
Sie lachte trocken. »Glauben Sie, die Miliz ist bei Fragen der inneren Sicherheit nicht beteiligt? Dass das alles die Tscheka erledigt? Sie wissen ganz genau, dass es nicht so ist.«
Das konnte er nicht leugnen. Ein großer Teil der Verhaftungen nach Artikel achtundfünfzig wurde von Milizbeamten durchgeführt, in der Regel auf Anweisung des NKWD, doch oft auch unabhängig. In seinem Elfenbeinturm in der Petrowka-Straße konnte er das mehr oder weniger ignorieren und sich zufrieden auf Mord und Totschlag konzentrieren. Doch inzwischen überraschte es ihn nicht mehr, wenn Zeugen der von ihm untersuchten Verbrechen die Gelegenheit nutzten, ihre Nachbarn, Kollegen und sogar Verwandte wegen politischer Verstöße zu denunzieren. Die Menschen auf der Straße wussten besser als er, dass sich die Miliz mit politischen Angelegenheiten befasste, auch wenn er persönlich sich an die Vorstellung klammerte, ausschließlich in Kriminalfällen zu ermitteln.
Nach einer Weile nickte er. »Ich verstehe. Aber was soll ich tun? Diese Wohnung wurde mir zugewiesen. Ich kann umziehen, sobald eine andere frei wird. Doch Sie wissen ja selbst, wie unwahrscheinlich das ist. Ich werde mich möglichst in meinem Zimmer aufhalten. Machen Sie sich bitte keine Sorgen, ich bin bestimmt nicht hier, um Sie auszuspionieren.«
Sie winkte ab. »Das habe ich nicht gemeint. Jetzt sind Sie schon mal hier. Ich wollte es Ihnen nur erklären.« Einen Moment lang ruhte ihr Blick nachdenklich auf ihm. »Ich wollte erklären, warum ich so reserviert war.« Sie stand auf und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin froh, dass wir so offen miteinander geredet haben.«
Mit einem Gefühl der Verwirrung schlug er ein. Ihre Geste hatte etwas sehr Männliches, wie er fand. Trotzdem wusste er nicht so recht, wie er dieses Gespräch einschätzen sollte.
»Sie sollten sich jetzt ins Bett legen«, sagte sie. »Ich bleibe morgen zu Hause, um ein Auge auf Sie zu haben.«
»Danke.«
»Natascha erwartet das bestimmt von mir. Sie sind der streunende Hund, den sie aus dem Regen gerettet hat. Soll ich Ihnen hinüber in Ihr Zimmer helfen?«
»Ich glaube, ich schaffe es allein.« Auf einen Stuhl gestützt, erhob er sich langsam vom Sofa. Leicht schwankend lächelte er Walentina zu, dann machte er sich mit kleinen, zögernden Schritten auf den Weg zu seinem Zimmer. »Sehen Sie, es geht.«
Als er seine Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte er sich mit der Schulter an und tastete mit der rechten Hand nach dem runden Lichtschalter. Doch als er ihn gefunden hatte, zögerte er. Langsam trat er ans Fenster und spähte über die Straße. Im Tor gegenüber zeichnete sich deutlich der Schatten eines Mannes ab. Eine runde Pelzmütze und ein langer Mantel, der vielleicht aus Leder war, so wie sich der Laternenschein darauf spiegelte. Wer war das? Ein Bandit? Ein Priester? Ein Tschekist? Ein ausländischer Spion? Wenn der Schweinehund morgen Abend noch da war, würde er ihm einen kleinen Überraschungsbesuch abstatten, aber heute konnte er froh sein, wenn er noch in sein Bett fand. Er zog den Vorhang zu und trat, ohne Licht zu machen und sich auszuziehen, zum Stuhl, über dem sein Mantel zum Trocknen aufgehängt war. Er nahm die Waffe aus dem Halfter, prüfte, ob sie gesichert war, schob sie unters Kissen und rollte sich unter die Decke.
Einige Augenblicke hörte er noch Geräusche aus dem Haus - Stimmen aus Walentinas und Nataschas Zimmer, Schritte von oben, Wasserrauschen in einem Rohr -, dann entschwanden das Zimmer, das Haus und sogar Moskau, als der Schlaf von ihm Besitz ergriff.
21
Koroljow schlummerte wie ein Toter, wie seine Mutter gesagt hätte, wenn sie nicht selbst schon seit fünfzehn Jahren unter der Erde gelegen hätte. Er schlief bis nach fünf und dann bis nach sechs. Die Dämmerung, die an den Vorhangrändern vorbei ins Zimmer sickerte, konnte ihn nicht wecken. Auch die Hähne nicht, die einander von Straße zu Straße zukrähten. Er verschlief das Rudel Hunde, das bellend einem Karren auf der
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