Russisches Requiem
eine leichte Betonung auf das Wort »Gefangener«, die etwas wie resignierte Enttäuschung ausdrückte.
»Ich habe kein Verbrechen begangen.«
»Jeder hat Verbrechen begangen. Gefangener.« Die Stimme klang gelangweilt. »Es kommt nur darauf an, es herauszufinden. Möchtest du, dass ich dir die Kapuze abnehme?«
»Natürlich.«
»Nun, dann kannst du mir vielleicht verraten, warum du bewusstlos in der Wohnung einer bekannten Anhängerin des orthodoxen Kultes gelegen hast.« Wieder raschelte Papier.
»Ich habe in einem Kriminalfall ermittelt und wurde attackiert.«
»Was für ein Fall ist das?«
»Eine Serie von Morden. Einer davon an der Bürgerin Kusnezowa, die auch Mary Smithson hieß und eine amerikanische Nonne war. Ich habe auf Anweisung von Stabsoberst Gregorin vom NKWD gearbeitet.«
Er hörte den Mann herantreten und wappnete sich für einen Schlag, spürte aber stattdessen Hände, die an der Kapuze zogen. Dann brandete ihm grelles Licht entgegen.
»Nicht sehr angenehm, die Kapuze.« Die teilnahmslose Stimme kam von hinten, und Koroljow hütete sich, über die Schulter zu blicken. »Das ist natürlich Absicht. Häufig ist sie genauso wirksam wie traditionellere Methoden. Als Kriminalbeamter weißt du sicher, dass ein brutales Verhör kräftezehrend ist. Manche Leute sind danach genauso mitgenommen wie der Gefangene. Aber die Kapuze hat schon was für sich.« Der Verhörspezialist klang, als spräche er mit sich selbst.
»Ich prügle keine Geständnisse aus Gefangenen heraus. Ich finde solche Maßnahmen ungeeignet.«
Eine Hand tätschelte Koroljow an der Schulter, wie um ihn zu beschwichtigen. »Und wer soll dich angegriffen haben?« Die Stimme hatte sich nach links bewegt.
Koroljow fand es beunruhigend, dass er bei dem Gespräch kein Gegenüber hatte. Aber auch das war wohl Absicht. »Ich habe ihn nicht gesehen. Er hat mich von hinten niedergeschlagen. Warum werde ich festgehalten, Genosse? Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.«
Der Verhörspezialist trat zum Schreibtisch und drehte sich um. Erschrocken starrte ihn Koroljow an. Es war der Mann aus dem Fußballstadion. Die wassergrauen Augen wirkten müde, und das Gesicht schien grauer, als es Koroljow in Erinnerung hatte, aber er war es zweifellos, nur dass er jetzt die Uniform eines NKWD-Majors trug. Er lächelte, als er sah, dass er erkannt worden war; ein leichtes Zucken von Lippen, denen jedes Lächeln fremd war.
»Ja, ein seltsamer Zufall«, bemerkte der Major. »Ich war überrascht, dir bei dem Spiel zu begegnen.«
»Sie wussten, wer ich bin?«
Nach kurzer Überlegung schüttelte der NKWD-Offizier den Kopf, als wäre ihm eine Antwort zu gefährlich. »Zur Sache, Gefangener. Wir sind hier, um die Art deiner Verwicklung in eine Verschwörung zu ergründen, bei der es um den Diebstahl von Staatseigentum geht. Wichtigstes Ziel ist im Augenblick, das fragliche Eigentum wiederzufinden.« Er stockte kurz und fügte dann hinzu: »Das Ausmaß deiner Schuld werden wir später feststellen. Aber deine Mithilfe wird als mildernder Faktor in Betracht gezogen.«
»Eine Verschwörung? Ich war an keiner Verschwörung beteiligt und auch an keinem Diebstahl.« Koroljow spürte, wie die Wut in ihm hochkroch.
Der Major musterte ihn eine Weile und deutete dann mit dem Kinn auf den Aktenordner. Er ließ keine Gefühle erkennen, außer vielleicht Melancholie. »Vielleicht kann ich es so ausdrücken.« Er sprach, wie er aussah - ein Buchhalter, der sich über die Schuhproduktion einer Fabrik verbreitete: ruhig und in sicherer Kenntnis unumstößlicher Fakten. Seine Worte waren so leise, dass sich Koroljow mit seinem immer noch summenden Ohr nach vorn lehnen musste. »Du kannst mir freiwillig erzählen, was ich wissen will, oder ich kann dich zerbrechen wie einen gefrorenen Ast. Und dann wirst du es mir sowieso erzählen. Danach wirst du erschossen, deine Exfrau wird in die Zone geschickt, und dein Sohn wird als Bettler in der Straßenbahn enden. Auch deine Freunde werden leiden.« Er warf einen Blick auf seine Notizen. »Popow, Semjonow, Dr. Tschestnowa, Jasimow, Babel, die Kolzowa ...« Mit tonloser, zuletzt fast unhörbarer Stimme zählte er die Namen von Freunden, Verwandten und Bekannten auf. Als er den Ordner auf den Tisch klatschte, wirkte das Geräusch fast so laut wie der Hieb des Aufsehers.
»Muss ich fortfahren?« In seinen Augen loderte Zorn auf, dann wurde seine Stimme wieder zu einem Flüstern. »Hier stehen fünfzig Namen, und du weißt
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