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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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doch bestimmt, wie es läuft. Sie werden verhaftet und eingesperrt, und dann müssen
ihre
Verwandten und Freunde leiden und so weiter und so weiter. Durch ganz Moskau wird die Welle rollen, einer nach dem anderen. Hunderte von Leuten. Und nur, weil du nicht kooperieren willst. Welchen Rat würden sie dir wohl geben, wenn sie hier bei dir wären? Was meinst du? Würden sie dich auffordern zu schweigen? Dem Staat zu trotzen? Nur damit du weiter die kleine Fahne deines egoistischen Ehrgefühls schwenken kannst? Sei vernünftig, Gefangener. Oder besser, sei gnädig. Ihr Leben liegt in deiner Hand.«
    Er schüttelte den Kopf, und Koroljow glaubte etwas Feuchtes in den niedergeschlagenen Augen des Mannes zu entdecken. Dann griff der Major in die Tasche und zog eine Schachtel Zigaretten heraus.
    Herzegowina Flor. Die gleiche Marke hatten sie auf dem verschneiten Fußballfeld entdeckt, nicht weit von dem ermordeten Tesak. Er zündete eine an und steckte sie Koroljow in den Mund. Koroljow inhalierte, während sich der Major auch eine ansteckte.
    Koroljow wies mit dem Kopf auf das leere Protokollpult. »Keine Schreibkraft? Das ist keine offizielle Untersuchung, oder?«
    Der Major seufzte. »Komm schon, die Fragen stelle ich hier, du antwortest gefälligst. Das ist keine Unterhaltung. Muss ich dir das erst in den Dickschädel prügeln? Es ist besser, wenn du kooperierst, Koroljow. Ich bringe dich so oder so zum Reden, glaub mir.«
    Es war das erste Mal, seit er im Gefängnis aufgewacht war, dass ihn jemand mit Namen angesprochen hatte. Es hatte fast etwas Vertrauliches, und das halbe Lächeln des Majors öffnete einen Spalt, auf den sich Koroljow stürzte, ohne lang zu überlegen. »Mit Elektrizität, wie bei Mary Smithson?« Es war nicht gerade ein Schuss ins Blaue, trotzdem staunte Koroljow über die Worte, die ihm herausgerutscht waren. Natürlich war es möglich. Schließlich kannte der Mann sein Gesicht, rauchte Herzegowina Flor und hatte ihm Folter angedroht. Aber der Major erinnerte Koroljow eher an einen Priester als an einen Psychopathen.
    Doch jeder Zweifel verflog, als das Blut aus dem Gesicht des Majors wich. Fasziniert beobachtete Koroljow den Mann. Plötzlich sah er aus wie ein gejagtes Tier.
    Schließlich fasste er sich wieder ein wenig, und zwei rote Flecken erschienen auf seinen bleichen Wangen, als er in wütendem Flüsterton antwortete. »Wovon redest du da überhaupt? Was ist das für ein widerlicher Unsinn? Wie kannst du es wagen, einen Tschekisten eines solchen Verbrechens zu bezichtigen? Du Hund. Du gemeiner, verleumderischer Hund. Ich werde dir die Haut millimeterweise abziehen.« Erbost sprang er auf und deutete auf Koroljow. »Halt dein dreckiges Maul, verstanden?« Die letzten Worte hatte er geschrien.
    Doch Koroljow ließ sich nicht beeindrucken, vorerst zumindest. Eigentlich fühlte er sich sogar gelassener als seit Tagen. »Eine merkwürdige Reaktion, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, Genosse. Dann handelt es sich bei dem gesuchten Staatseigentum wohl auch nicht um eine bestimmte Ikone? Deswegen haben Sie sie doch gefoltert, Sie Verräter. Sie wollten die Ikone aufspüren.«
    »Du weißt, wo die Ikone ist, Gefangener.« Der Major hatte sich wieder gefasst. »Und du weißt auch, wer der wirkliche Verräter ist, du bösartiger Teufel.«
    »Was wird Ihr Sohn wohl dazu sagen, wenn Sie in Amerika ankommen? Wenn er herausfindet, dass sein Vater das sowjetische Volk verraten hat? Es wird bestimmt schwer für ihn sein, und für Sie wahrscheinlich auch. Ich hab doch heute gesehen, wie er seinen Vater bewundert. Er ist bei den Pionieren, oder? Werden Sie seinen roten Schal für die Reise einpacken?«
    Verwirrt kniff der Major die Augen zusammen, aber dann entspannte er sich plötzlich und winkte ab. »Du bist ein Dummkopf, ich fahre nirgends hin. Aber
du
fährst gleich zur Hölle, wenn du nicht kooperierst.«
    »Mag sein. Aber warum haben Sie den Genossen Mironow von der Auslandsabteilung erschossen? Weil er nicht wollte, dass die Ikone an den Meistbietenden verkauft wird?« Als er das überraschte Blinzeln des Majors bemerkte, fiel es Koroljow wie Schuppen von den Augen. Der Narr wusste nicht, dass Gregorin hinter der Verschwörung steckte. Auch er war hereingelegt worden. »Sie wissen nichts von Mironow, oder? Major Mironow von der Auslandsabteilung. Er wurde angesprochen, damit er die Reisevisa besorgt. Aber für Sie gab es anscheinend kein Visum. Sie dürfen die Suppe auslöffeln, während die anderen

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