Russisches Requiem
in die Irre leiten lassen. Politische Angelegenheiten sind komplex und haben Grautöne, aber du siehst alles nur in Schwarz und Weiß. Du bist vom rechten Weg abgewichen, und dann haben bereits die Feinde der Partei auf dich gewartet. Dabei warnt uns die Partei immer wieder: >Seid wachsam! Die Konterrevolutionäre sind nicht dumm.< Nein, das sind sie nicht. Sie sind Meister der List und Tücke, und doch wundern sich die Bürger über ihre Schlauheit. Sowieso war dreißig Jahre lang Parteimitglied, Lenins rechte Hand, wie kann er da ein Verräter sein? Wir haben es mit einer vielköpfigen Hydra zu tun, deren Agenten überall sind, und wir müssen mit unendlicher Geduld und unvergleichlicher Selbstbeherrschung gegen sie kämpfen. Euer Mendelejew zum Beispiel:
Viele Jahre scheinbar ein nützlicher Streiter für die Revolution, und dann verbreitet er als Humor getarnte faschistische Lügen. Ein Verführter vielleicht, oder hat er all die Jahre nur auf diese Krisenzeit gewartet, um sein Gift absondern zu können? Und was ist mit dir? Hast du dich freiwillig an diesem Diebstahlversuch gegen den Staat beteiligt, oder hat man dich auf zynische Weise manipuliert, ohne dass du es bemerkt hast? Wie heißt Koroljows Sohn?«
Der Major schlug in der Akte nach. »Juri.«
»Ja, Juri. Armes Kind. Du weißt doch über staatliche Waisenhäuser Bescheid, oder? Sie befinden sich natürlich im Übergang. Mit der Zeit werden die normalen Kinder die Waisen beneiden, die vom Staat versorgt werden. Doch im Augenblick steht es leider noch nicht so gut. Hast du von dem kleinen Jungen gehört, der gekreuzigt wurde, weil er ins Bett gemacht hat? Gekreuzigt! Als abschreckendes Beispiel für die anderen Kinder an die Wand des Schlafsaals genagelt. Unfassbar. Selbstverständlich wurden die Täter bestraft, dennoch geschehen solche Dinge öfter, als uns lieb sein kann. Und dein Sohn ist doch ein hübscher Bursche. Es ist wirklich eine Schande, aber manche Betreuer sind Perverse. Wie sehr wir uns auch anstrengen, sie rutschen immer wieder durch. Trotzdem hoffen wir natürlich das Beste.«
»Warum ist keine Schreibkraft da, Oberst Gregorin?«
Lächelnd zeigte Gregorin seine weißen Zähne, und nicht zum ersten Mal fühlte sich Koroljow an ein Raubtier erinnert, das mit seiner Beute spielt.
»Ich hab's dir doch erklärt, Koroljow. Es ist eine vertrauliche Angelegenheit. Und das kommt von oben. Von ganz oben. Du weißt, wie die Bauern zu Ikonen stehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie sich wegen der Kasanskaja aufregen. Nicht im gleichen Jahr, in dem auch die nach ihr benannte Kultkathedrale auf dem Roten Platz gesprengt wurde. Ich glaube nicht, dass das sehr klug wäre.«
Seine Stimme verlor den amüsierten Ton und wurde hart. »Also keine Schreibkraft und auch keine Gnade, wenn du uns nicht alles erzählst, was wir hören wollen. Weder für dich noch für alle, die dich kennen. Das ist keine Drohung, Koroljow. Es ist ein heiliger Eid.«
»Das Einzige, was ich nicht verstehe, ist das mit Mironow. Warum haben Sie einen aus Ihren eigenen Reihen getötet?«
Der Blick des Obersts huschte kurz zum Major. Das reichte Koroljow, um sicher zu sein, dass Gregorin ein Schurke und der Major wahrscheinlich keiner war.
»Mironow war Teil der Verschwörung, die Sache musste schnell und in aller Stille bereinigt werden. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Major Tschaikow ist nicht befugt. Genaueres zu erfahren, und du erst recht nicht. Der Hinweis möge genügen, dass Mironow viel zu lang das Vertrauen der Partei missbraucht und seine verdiente Strafe bekommen hat.« Gregorin lächelte. »Trotzdem war es schon eine Leistung, seine Leiche aufzustöbern. Du bist vielleicht nicht sehr intelligent, aber irgendwie hast du eine verteufelte Art, zur rechten Zeit am rechten Ort aufzutauchen.«
»Ich glaube Ihnen kein Wort. Mironow mag aus irregeleitetem Glauben für die Kultanhänger gearbeitet haben, aber Sie sind viel schlimmer. Sie sind nur auf das Geld aus.«
Gregorin schüttelte den Kopf. »Nein, Koroljow. Ich habe nur Befehle befolgt. Und auch du hast einen Befehl erhalten - nämlich die Finger von dem Fall zu lassen -, ihn aber missachtet, weil du nichts weiter bist als ein kleinlicher Individualist. Mit deiner tollpatschigen Stümperei hast du die Operation im Arbat zunichtegemacht. Wir haben dieses verdammte Haus gestürmt, in der Hoffnung, die Ikone und eine Horde von Verrätern zu finden. Stattdessen stoßen wir auf einen bewusstlosen Tölpel, der mit
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