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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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körperlicher Angriff aufgefasst und entsprechend geahndet. Kapiert?«
    Koroljow war überrascht, dass der Aufseher die Stimme eines gebildeten Mannes hatte, obwohl er aussah wie ein Schlagetot. Er spielte mit dem Gedanken, ihnen von Gregorin zu erzählen, aber er verwarf ihn wieder. Er würde noch früh genug verprügelt werden, es hatte keinen Sinn, darum zu betteln. »Ja.«
    »Kannst du laufen?«
    »Ich glaube schon.«
    »Ja oder nein. Gefangener.«
    »Ja.«
    »Ich gehe voraus. Einer neben, der andere hinter ihm. Legt ihm Handschellen an. Blick immer geradeaus, Gefangener.«
    Die Zwillinge drehten ihn zur Wand, banden ihm die Hände hinter den Rücken und schoben ihn dann hinaus in einen engen Korridor, der in dem gleichen Hellblau gestrichen war wie die Zelle. Er wurde zu beiden Seiten von schweren Metalltüren gesäumt und von starken Glühbirnen ausgeleuchtet, die in unregelmäßigen Abständen nackt von der Decke hingen. In einer Zelle schluchzte jemand wie ein Kind; irreale Laute wie aus einem Radio im Nachbarzimmer. Ehe sie losmarschierten, überprüfte der Glatzkopf ihre Formation. Unterwegs klimperte er mit dem Schlüsselbund wie mit einer Glocke. Die bräunlichen Streifen auf dem Boden und an den Wänden erinnerten verdächtig an getrocknetes Blut. Erstaunt stellte Koroljow fest, dass er keine Furcht empfand, sondern nach dem ersten Schock ganz ruhig war.
    Sie betraten ein Treppenhaus und stiegen vier Stockwerke hinunter. Die Fenster waren schwer verhängt, um weder Licht noch Geräusche hereinzulassen. Es war, als wären sie unter Wasser. Nur ihre Schritte hallten durch das Gemäuer, aber selbst diese Geräusche wirkten verzerrt. Daneben gab es auch andere Laute im Gebäude, erstickt und weit entfernt, die wie das Schluchzen aus der Zelle eine fast gespenstische Qualität hatten. Unwillkürlich streifte Koroljow der Gedanke, dass das alles nur ein Traum war, und er empfand es fast als Erleichterung, als man ihn in ein schlicht eingerichtetes Zimmer mit einem Schreibtisch und einem stabilen Metallstuhl davor führte, von dessen Lehnen und Beinen dicke Ledergurte hingen. Der Raum strahlte etwas schroff Reales aus.
    »Auf den Stuhl, Gefangener.«
    Er setzte sich, und die Zwillinge nahmen ihm die Handschellen ab, ehe sie die Ledergurte festzurrten, bis sie saßen wie Druckverbände. Nun konnte er nur noch den Kopf bewegen, und das nutzte er, um sich umzuschauen.
    »Blick geradeaus, Gefangener.«
    »Aber ...« Weiter kam Koroljow nicht.
    Einer der Zwillinge versetzte ihm einen Hieb aufs linke Ohr, der wie ein Schuss in seinem Kopf explodierte. Einen Moment lang hatte er jede Orientierung verloren, dann nahm er verschwommen seine Umgebung wahr, und das Zimmer gewann allmählich wieder schärfere Konturen. Obwohl er ein lautes Sirren im Ohr hatte, konnte er den glatzköpfigen Aufseher gut verstehen.
    »Setzt dem Gefangenen die Kapuze auf. Du bleibst bei ihm, bis der Major eintrifft.«
    Dann stülpten sie ihm einen kleinen Sack über den Kopf, der nach Erbrochenem und etwas Schlimmerem stank, das er nicht gleich erkannte. Dann hatte er es. Verfaultes Fleisch. Plötzlich war er wieder zwischen den zerschlagenen, verwesenden Leichen, die in einem Schützengraben irgendwo in der Ukraine verstreut lagen. Beklommen umklammerte Koroljow die Armlehnen und versuchte, durch den Mund zu atmen. Dann fing er an zu zählen, um sich abzulenken. Er hörte nur noch, wie er Luft holte, und hätte am liebsten laut geschrien, aber er wusste, dass ihm das nur Schläge einbringen würde. Er zwang sich, sich auf das Zählen zu konzentrieren. Fünfundsiebzig, sechsundsiebzig. Als er bei vierhundertzweiundsechzig angelangt war, öffnete sich die Tür.
    »Sie können gehen. Sie wissen, dass Sie unter keinen Umständen über den Gefangenen sprechen dürfen, nicht einmal mit anderen Aufsehern oder Ihren Vorgesetzten. Bitte bestätigen Sie, dass Sie verstanden haben und sich an Ihre Schweigepflicht halten werden.«
    »Natürlich, Genosse«, erwiderte der Aufseher.
    »Ist er sicher angebunden?«
    »Ja.«
    »Das wäre alles. Der Korridor bleibt verschlossen, bis Sie neue Befehle erhalten.«
    Anscheinend zog der Aufseher die Tür mit großer Behutsamkeit zu. Koroljow hörte nur ein leises Klicken, sich entfernende Schritte und dann weit weg eine andere Tür, die mit metallischem Scheppern zufiel. Danach nichts mehr außer dem Geräusch von Seiten, die umgeblättert wurden.
    »Du weißt, warum du hier bist, Gefangener?« Die leise Stimme legte

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