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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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legte auf. Höflichkeitsfloskeln waren für den Oberst anscheinend überflüssig. Sein kalter Blick kehrte zu Koroljow zurück. »Aber das mit Tschaikow ... ein Mann, der für die Partei durch Blut gewatet ist. Bei Gregorin kann ich es mir vorstellen, aber bei ihm nicht. Er hatte natürlich gar keine Waffe bei sich.«
    »Gregorin hat ihn benutzt. Und als Tschaikow gemerkt hat, dass er damit zu einem Verbrechen gegen den Staat beigetragen hat... nun, vielleicht wollte er erschossen werden.«
    Traurig schüttelte Rodinow den Kopf. »Das hätte ich nie für möglich gehalten. Ich habe selbst erlebt, wie dieser Mann Feinde liquidiert hat, dass der Pistolenlauf nur so geraucht hat, einen nach dem anderen. Ich weiß nicht, warum er nicht einfach die Hände gehoben hat. Fehlende Wachsamkeit, ja, aber was für ein Arbeiter.« Er überlegte kurz. »Nun, Hauptmann Koroljow, anscheinend sind Sie bei Ihren Ermittlungen auf ein Schlangennest gestoßen. Und Sie, Semjonow - wenn Sie nicht zu mir gekommen wären, als Gregorin Koroljow hierhergebracht hat, dann hätten wir die Sache nie rechtzeitig aufgeklärt. Kommissar Jeschow persönlich lässt sich stündlich informieren. Sobald wir Gregorin gefasst haben, werden wir das wahre Ausmaß der Verschwörung aufdecken. Es ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit.«
    »Mir war von Anfang an klar, dass Hauptmann Koroljow kein Verräter ist, Genosse Oberst.«
    »Wenn es zur Verhaftung kommt...«, begann Koroljow.
    Rodinow zog die Augenbraue hoch. »Sie möchten dabei sein?«
    »Falls möglich.«
    »Wir werden sehen. Zuerst müssen wir ihn aufspüren. Es ist natürlich eine Angelegenheit der Tscheka, aber unter diesen Umständen wird Kommissar Jeschow wohl nichts dagegen haben. Ja, ich kann mir gut vorstellen, dass Sie ihm einiges zu erzählen haben.« Er wandte sich an Semjonow. »Ein harter Bursche, dieser Kriminalermittler. Seine Stirn erinnert mit den vielen Stichen an einen Eisenbahnknotenpunkt.«
    »Genosse Koroljow hat mir viel beigebracht in den wenigen Monaten, die ich bei der Volksmiliz war, Oberst Rodinow. Ich bin sehr beeindruckt von seinem Pflichtbewusstsein und seiner logischen und praktischen Vorgehensweise.«
    »Hohes Lob, Koroljow. Von einem jungen Mann, den Genosse Jeschow persönlich im Auge hat. Wirklich hohes Lob.«
    Als Semjonow den Hauptmann nach Hause fuhr, färbte bereits die Morgendämmerung die Kuppeln der Moskauer Kirchen. Es hätte nicht so spät werden müssen, doch es hatte einige Zeit gedauert, Koroljows Sachen aufzutreiben, und er hatte sich geweigert, ohne seinen Wintermantel und die Filzstiefel aufzubrechen. Schließlich führte sie einer der Zwillinge, inzwischen selbst gürtellos und barfuß und mit einem Ausdruck absoluter Ratlosigkeit im schwer zerbeulten Gesicht, zu einem Pappkarton mit Koroljows Habseligkeiten, in dem auch die Walther und sein Ausweis lagen. Koroljow spielte kurz mit dem Gedanken, dem ehemaligen Aufseher eine zu verpassen - in seinem Ohr sirrte es noch immer -, aber er fand, dass sich das Blatt zur Genüge gewendet hatte, und außerdem wusste er nicht, ob ihn nicht der andere Zwilling geschlagen hatte.
    »Wie in alten Zeiten mit diesem Ford«, bemerkte Semjonow, als die Lubjanka allmählich im Rückspiegel verschwand. Tatsächlich hatte das Modell T, in dem sie fuhren, große Ähnlichkeit mit dem Automobil, in dem Larinin sein Ende gefunden hatte.
    »Passen Sie lieber auf die Lastwagen auf«, knurrte Koroljow.
    Semjonow lächelte, aber ihm war anzumerken, dass er sich nicht ganz wohl in seiner Haut fühlte. Koroljow erging es ähnlich, und so fuhren sie schweigend dahin. Es war der Morgen der Oktoberparade, und die frühen Straßenbahnen und Busse waren mit Plakaten bedeckt, die die Erfolge des Fünfjahresplans, die Kraft der Partei und Stalins Weisheit priesen. Arbeitstrupps reinigten die Straßen, und auf dem Jauski-Boulevard hatte ein Verband Soldaten mit riesigen Ballons in Form von Häusern Aufstellung genommen. Hier der Genossenschaftsladen, dort das Parteibüro, dahinter eine Schmiede - zusammen wiegten sich über vierzig aufgeblasene Bauwerke im leichten Wind. Durch den Atem und Zigarettenrauch der Soldaten erinnerte das Ganze an ein Dorf, das im dünnen Nebel schwebte. Weiter vorn hatten sich große Gruppen von Pionieren in Mänteln und roten Halstüchern versammelt, deren Fahnen und Banner die letzten Blätter an den Bäumen berührten, und dahinter war eine Kolonne brauner Panzer aufgefahren, aus deren Auspuffrohren

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