Russisches Requiem
die drei Monate ihrer gemeinsamen Arbeit, doch bei Semjonow war er sich da nicht so sicher. Wie konnte er nach allem, was sich herausgestellt hatte, wissen, wie der junge Tscheka-Hauptmann in Wirklichkeit zu den Dingen stand?
26
Völlig erschlagen schloss Koroljow die Wohnungstür auf. Er war so leise wie nur möglich, für den Fall, dass Walentina Nikolajewna noch schlief. Doch kaum war er über die Schwelle getreten, spürte er etwas metallisch Kaltes über dem linken Ohr.
»Das ist eine Pistole, Hauptmann Koroljow. Kein Wort. Hände über den Kopf und dann einen Schritt nach vorn, ganz langsam.«
Koroljow folgte der Anweisung, und der Lauf der Waffe bewegte sich mit ihm, als würde er an seinem Haar kleben. Er hörte, wie hinter ihm die Tür zuklappte, und nachdem sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, bemerkte er Gregorin auf einem Stuhl in der Gemeinschaftsküche. Das blasse Morgenlicht, das durch die Lücken im Vorhang sickerte, tauchte die Lederjacke des Obersts in einen schwachen Schein.
Eine kundige Hand glitt über Koroljows Körper und zog schnell die Walther aus dem Halfter. Dann wurde er in das Zimmer gestoßen.
Gregorin betrachtete ihn mit abschätziger Miene und nickte zur Begrüßung. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass du gar nicht mehr kommst, Koroljow, aber anscheinend hat sich das Warten doch gelohnt.«
»Oberst Gregorin.« Koroljow ließ den Blick kurz zur Seite huschen. Der Mann mit der Waffe war Wolodja, Gregorins Fahrer.
»Glück ist schon eine erstaunliche Sache. Wenn man es hat, ist man nicht aufzuhalten - sogar ein dicker, unfähiger Pedant wie du. Findest du nicht?«
»Wenn Sie es sagen, Oberst.«
»Das tue ich. Ich habe es gesagt, als Wolodja deinen Wagen von der Straße geschoben und sich dann herausgestellt hat, dass ein anderer am Steuer saß. Ich habe es gesagt, als du über Mironows Leiche gestolpert bist. Und jetzt war dir das Glück schon wieder hold, wirklich bemerkenswert. Intelligenz ist dabei bestimmt nicht im Spiel, du hast nur unverschämtes Schwein gehabt. Aber jetzt ist damit Schluss.«
Koroljow sparte sich eine Antwort. Was hätte er auch sagen sollen, wenn ihm ein Kerl von der Größe eines Ochsen eine Waffe an den Kopf drückte? Hätte er Wolodja den Tisch über den Schädel gehauen, wäre der Tisch sicher schlechter weggekommen.
»Tschaikow, also?« Der Oberst nickte nachdenklich. »Wenn er es gewusst hätte, hätte er nie mitgemacht, aber ich dachte, wenn er erst tief genug in der Sache drinsteckt, bleibt ihm keine andere Wahl mehr. Trotzdem war es natürlich ein Risiko.«
»Es war nicht nur Tschaikow. Ein Kollege ist mir zu dem Haus im Arbat gefolgt. Er hat das Kennzeichen Ihres Wagens notiert. Und als die ersten Fragen nach dem Grund meiner Festnahme gestellt wurden, ist Ihre Tarnung sehr schnell aufgeflogen.«
»Dann darf ich also davon ausgehen, dass überall nach mir gefahndet wird.«
»Ja.«
Gregorin zuckte die Achseln. »Wir sind noch lange nicht am Ende, auch wenn die Lage dadurch schwieriger wird. Eigentlich war es sowieso ein Wunder, dass das alles nicht schon früher aufgedeckt wurde, aber ich hatte keine andere Wahl, nach dem Verschwinden der Ikone war rasches Handeln gefragt. Wie ich höre, hat mich Jagoda belastet, und ich bin nicht der Typ, der einfach darauf wartet, dass die Axt niedersaust. Die Ikone war ein Geschenk des Himmels, und dabei bin ich nicht einmal gläubig.«
»Sie wären nie damit durchgekommen.«
»Meinst du? Für alle anderen war es nur irgendeine Ikone. Ich war der Einzige, der erkannt hat, was es damit auf sich hat, am Anfang zumindest. Ich wollte meinen Ohren nicht trauen, als die kleine Ratte, die wir bei der Suchaktion erwischt haben, geplaudert hat. Und es war nicht schwer, sich auszumalen, was sie wert sein könnte. Sehr viel natürlich, und ich kenne auch die Leute, mit denen man in so einem Fall reden muss. Das einzige Haar in der Suppe war Mironow.«
»Aber Sie haben ihn getötet - nicht Tschaikow.«
»Wolodja, um genau zu sein. Tschaikow war leicht zu manipulieren, aber beim Verhör eines NKWD-Offlziers hätte selbst er Fragen gestellt. Zum Glück war Mironow nicht ganz so standhaft wie die amerikanische Nonne. Schon nach ein paar gebrochenen Fingern hat er gesungen wie eine Nachtigall »Also ist die Ikone doch bei der Nonne?«
Gregorin seufzte. »Halt mich nicht zum Narren, Koroljow. Ich bin müde, und ich habe keine Zeit. Du hast mit der Nonne geredet, das hast du mir erzählt, also
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