Russisches Requiem
schwarzer Qualm quoll. Koroljow fragte sich, wie die Lehrer die Pioniere in den langen Stunden in Zaum halten wollten, ehe sich die Parade in Bewegung setzte. Vielleicht sollten die Panzer für Ordnung unter den kleinen Genossen sorgen.
»Waren Sie überrascht?«, fragte Semjonow schließlich.
»Dass Sie sich als Tschekist entpuppt haben? Ja. Wenn ich es mir allerdings überlege, hätte mir schon früher was auffallen müssen. Sie sind zwar jung, aber Sie haben einen alten Kopf auf den Schultern.«
»Ich habe Befehle befolgt. Ich weiß, es war vielleicht nicht unbedingt kameradschaftlich, meine Identität zu verschleiern, aber meine Anweisungen haben das von mir verlangt.«
»Klar. Wenn Sie bekanntgegeben hätten, dass Sie ein NKWD-Mitglied sind, hätten Sie damit natürlich Ihren Zielen geschadet. Ich beschwere mich nicht, Wanja. Ein Zweiter Leutnant der Miliz hätte mich nicht aus der Lubjanka rausholen können. Ich muss dankbar dafür sein, dass Sie in Wirklichkeit ein Hauptmann der Tscheka sind.«
»Bedanken Sie sich bei Jasimow. Er hat mir das Nummernschild genannt. Dadurch bin ich auf Gregorin gestoßen und habe Rodinow gebeten, sich mit der Sache zu befassen. Gregorins Lügengebäude ist praktisch sofort eingestürzt - er hat alles auf eine Karte gesetzt. Hat darauf gehofft, dass die Leute vor lauter Angst keine Fragen stellen. Aber wäre Jasimow nicht gewesen, hätten wir Sie nie gefunden. Übrigens, falls Sie es noch nicht erraten haben: Gregorins Anweisung an Tschaikow, Sie auf Zimmer H zu bringen, hieß, dass er Sie sofort erschießen sollte.«
Koroljow hatte sich noch nicht damit auseinandergesetzt, wie knapp er dem Tod entronnen war. Im Verhörraum war ihm natürlich bewusst gewesen, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing, doch nach dem Auftauchen Semjonows und der anderen Retter war er überhaupt nicht mehr zur Besinnung gekommen. Als er jetzt endlich Gelegenheit zum Nachdenken fand, lief ihm noch nachträglich ein heftiger Schauer über den Rücken.
»Jasimow ist ein guter Freund. Ich bin euch beiden sehr dankbar.« Wie dankbar, konnte Koroljow gar nicht in Worte fassen.
»Meine Bemerkung vorhin gegenüber Rodinow war nicht gelogen. Ich habe viel von Ihnen gelernt.«
Koroljow war nicht sicher, wie er darauf reagieren sollte. Seine Zuneigung zu dem alten Semjonow existierte noch immer, andererseits erinnerte er sich auch an Indiskretionen, die ihm entschlüpft waren, und er fragte sich, ob sie in die Berichte des Jüngeren eingeflossen waren. Und was war mit den fragwürdigen Äußerungen, die der Bursche von Zeit zu Zeit hatte fallenlassen? Waren sie darauf berechnet gewesen, ihn oder andere zu illoyalen Bemerkungen zu verführen? Er wollte gar nicht so genau wissen, was Semjonow in der Petrowka-Straße getrieben hatte. Auf jeden Fall stand fest, dass er die Kriminalmiliz auf irgendeine Weise ausspioniert hatte.
Es war fast, als hätte Semjonow seine Gedanken gelesen: »Übrigens habe ich mich für Mendelejew eingesetzt und Rodinow auch mitgeteilt, dass ich keine Hinweise auf ernste Illoyalität oder Abweichungen bei der Kriminalmiliz gefunden habe - nur das übliche Genörgel, das Informanten wie Larinin so gerne weitergeben. Popow hat es richtig gemacht: gründliche Selbstkritik und eine Entschuldigung bei der Partei. Rodinow ist kein Hitzkopf. Er wird bestimmt empfehlen, dass keine weiteren Maßnahmen ergriffen werden, da bin ich sicher. Vor allem nach den jüngsten Ereignissen.«
Koroljow hob die Hand, um Semjonows Redeschwall zu unterbrechen. »Bitte, Wanja.« Kurz streifte ihn der Gedanke, dass diese vertraute Anrede vielleicht nicht mehr angemessen war. Dann fuhr er fort. »Sie haben mir das Leben gerettet, alles andere ist unwichtig. Glauben Sie mir. Wenn wir uns wiedersehen, dann als Freunde.«
Semjonow wandte sich Koroljow zu, und das erfreute Lächeln auf seinem offenen, ehrlichen Gesicht gehörte dem alten Leutnant. Aber wahrscheinlich würde der NKWD bald einen härteren, grausameren Mann aus ihm machen. Falls nicht, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Junge selbst zum Opfer wurde.
Schließlich bog Semjonow in die Bolschoi-Nikolo-Worobinski-Gasse und hielt vor Koroljows Haus. Er schaute Koroljow an und streckte ihm die Hand hin. »Dann bleiben wir also Freunde, Alexei Dimitrijewitsch.«
»Ja, Iwan Iwanowitsch.«
Mehr gab es nicht zu sagen, und so lächelten sie einander an. Koroljow wusste, dass er selbst es ehrlich meinte, aus Dankbarkeit und in Erinnerung an
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