Russisches Requiem
stärker sein. Aber was mit ihr geschehen ist - es war entsetzlich.«
»Ihre Reaktion ist völlig normal, Genossin.«
»Danke, aber nun zu Ihren Fragen. Was möchten Sie wissen?« Sie setzte ein gequältes Lächeln auf, und Koroljow beobachtete, wie einer der Burschen die Augenbraue hochzog. Rotzbengel - hart, wie es nur junge Leute sein konnten.
»Am Abend sollte also eine Tanzveranstaltung stattfinden. Warum wurde nichts daraus?«
»Ein Problem mit der Elektrizität, Genosse. Unsere Verbindung zum Netz war gestört. Nur vorübergehend. Es wurde noch rechtzeitig für den Tanz behoben, aber da hatten wir bereits abgesagt.«
»Inwiefern gestört?«
»Nichts Verdächtiges. Auf der Baustelle nebenan hatte ein Arbeiter ein Kabel durchtrennt.«
Nach kurzer Überlegung beschloss Koroljow, Semjonow darauf anzusetzen. »Die Sache ist die: Ich frage mich, wie der Mörder auf diesen Ort gekommen ist. Vielleicht hat er nur zufällig auf den Plakaten gesehen, dass der Tanz nicht stattfindet, und die Gelegenheit genutzt. Aber selbst dann hätte er sich nicht völlig sicher sein können, verstehen Sie? Es sei denn, er ist mit den Verhältnissen hier vertraut. Dann stellt sich die Frage, woher er wusste, dass er ungestört bleiben würde. Wir vermuten, dass er gegen Mitternacht eingedrungen ist. Ist die Kirche um diese Zeit immer geschlossen?«
»Wir ziehen es vor, den Begriff >Kirche< nicht zu benutzen. Es ist ein Komsomol-Zentrum für Freizeit und politische Agitation. >Ehemalige Kirche< ist jedoch akzeptabel.«
Koroljow ballte die Hand in der Tasche zur Faust. Natürlich hatte sie im streng politischen Sinn Recht, aber trotzdem. Das Gerede mancher Leute trieb ihn einfach zur Weißglut.
»Beantworten Sie bitte meine Frage. Mit den Vorträgen können Sie noch bis zur Parteiversammlung warten.« Als er ihre bestürzte Miene bemerkte, wurde ihm klar, dass er etwas von seinem Zorn gezeigt hatte. Andererseits konnte es auch nicht schaden. Offenbar musste er sie etwas härter anfassen, um überhaupt ein vernünftiges Wort aus ihr herauszubekommen.
Er klopfte auf den Tisch, um sie zur Ordnung zu rufen. »Ich untersuche einen Mordfall, Genossin, und es ist mir egal, wie Sie dieses Gebäude bezeichnen. Für mich handelt es sich nur um einen Tatort, verstanden?«
Sie reckte das Kinn. »Bitte keine unkultivierte Aggressivität, Hauptmann Koroljow. Der Tanz war zur Unterstützung der Genossen in Spanien gedacht. Wenn es keinen Tanz oder eine andere Sonderveranstaltung gibt, schließt das Zentrum um acht.« Sie sprach wie mit einem Kind, und ihm verging jedes warme Gefühl für sie. Die beiden Burschen hatten ihre Arbeit unterbrochen.
Er sah, dass einer von ihnen mühsam ein Grinsen verbarg. »Du da. Name, Vatersname, Nachname.«
»Grischkin, Alexei Wladimirowitsch.«
»Und du?«
»Nikolai Alexandrowitsch Soschenko.«
»Also, dann hör mal zu, Grischkin, und auch du, Soschenko. Ich will eine Liste aller Mitglieder eurer Zelle und von allen Leuten, die im letzten halben Jahr eine Versammlung oder eine Veranstaltung in dieser
ehemaligen
Kirche besucht haben.«
»Aber ...«, stammelte Soschenko.
»Spart euch die Ausreden, ich will die verdammte Liste. Und solange ich diese Liste nicht bekomme und mich davon überzeugen kann, dass sie korrekt ist, wird es keine öffentliche Nutzung dieser Kirche mehr geben. Und sollte sie in irgendeiner Weise mangelhaft sein, finde ich für euch zwei sicher ein nettes Plätzchen im Butyrka-Gefängnis, wo ihr ein bisschen zur Besinnung kommen könnt. Ihr habt sechs Stunden Zeit. Vergesst die verfluchten Eintrittskarten und macht euch an die Arbeit!«
»Ich protestiere.« Das Mädchen wirkte, als wollte sie zu einer langatmigen Abhandlung über die Bedeutungslosigkeit eines Mordes im Vergleich zum umfassenden Fortschritt der Revolution ausholen.
Koroljow hieb mit der flachen Hand auf den Tisch, dass das Kontenbuch in die Luft flog. »Genossin Kowalewskaja, ich darf Sie daran erinnern, dass die Miliz zur Staatssicherheit gehört und dass dieses Verbrechen gegen eine sowjetische Bürgerin in einem Gebäude des Komsomol verübt wurde. Vorrang hat hier, dass es sich um einen Verstoß gegen sowjetisches Recht handelt. Angesichts der Tatsache, dass Sie und Ihre Genossen in einer Zeit, da die gesamte Revolution bedroht ist, nicht einmal in der Lage sind, ein Jugendzentrum vor Einbruch zu schützen, sollten Sie es sich genau überlegen, ob Sie nicht lieber rückhaltlos mit mir zusammenarbeiten
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