Russisches Requiem
Enthauptungsfall steckte. Jetzt schien sie zehn Jahre älter und todmüde.
»Mich kann nichts mehr erschüttern.« Sie fixierte das Blut auf dem Boden. »Sie ist nicht schnell gestorben, so viel steht fest. Bei dem kalten Wetter wird es schwer sein, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, aber ich vermute, dass es in den frühen Morgenstunden war. Fahren Sie mit ins Institut, dann untersuchen wir sie gleich, und ich kann Ihnen mehr sagen.«
»Aber Sie haben noch nicht geschlafen.« Besorgt registrierte Koroljow die graue Blässe ihrer Haut.
»Möglicherweise habe ich auch morgen noch nicht geschlafen, Genosse. Nutzen wir lieber die Gelegenheit.« Sie lächelte matt.
Zusammen folgten sie den zwei Sanitätern, die die Tote in steif schwankendem Rhythmus hinaustrugen. Dieselben Straßenkinder wie vorhin beobachteten, wie die Bahre in den Krankenwagen geladen wurde. Einer der kleinen Stadtstreicher, ein Rotschopf mit knochigem Gesicht, der in einer zwei Nummern zu großen gefütterten Jacke steckte, tauchte unter dem Absperrseil der Miliz hindurch und schoss wie der Blitz zum Unfallwagen. Instinktiv streckte Koroljow den Arm aus und erwischte eine Handvoll Haare; der Junge kam kreischend zum Stehen. Eigentlich hatte er ihn an der Jacke packen wollen, aber die Haare erfüllten diesen Zweck wohl genauso. Dr. Tschestnowa warf ihm einen entsetzten Blick zu.
Er ließ die Hand in den Nacken des Bengels sinken und beugte sich zu ihm. »Was soll denn das?«
Die Augen, die zu ihm aufblickten, waren völlig furchtlos. »Wollte nur schauen, wie sie aussieht, die Dame. Sie haben gesagt, sie ist schön wie ein Engel.«
Koroljow holte aus, um dem Jungen eine Kopfnuss zu verabreichen, doch als er aus dem Augenwinkel Tschestnowas Miene bemerkte, ließ er es bei einem unsanften Schubs in Richtung seiner zwei Freunde bewenden, die das Ganze interessiert, aber emotionslos verfolgt hatten. Abgebrühte kleine Kerle. So viele Eltern, die in die Zone abtransportiert wurden. Kinder wie diese gab es an jeder Ecke. Wenn sie nicht aufgesammelt und in ein Waisenhaus gesteckt wurden, hatten sie kaum Aussichten, den Winter zu überleben. Nicht dass die Waisenhäuser viel besser waren.
Er kramte ein paar Kopeken aus der Tasche. »Hier, kauft euch eine Kohlsuppe, ihr Lumpen.«
Das Geld wurde ohne Dank entgegengenommen, und der Rotschopf taxierte ihn auf eine Weise, die Koroljow ins Grübeln brachte. Von wem bekamen sie sonst Geld und wofür? Er schämte sich. Wie alt war der Knirps? Zehn Jahre vielleicht? So alt wie sein Sohn Juri, aber seine Augen waren wissend wie die eines Hundertjährigen.
4
Der Krankenwagen setzte sich holpernd in Bewegung, und Koroljow fand sich mit dem Fotografen auf einer Bank gegenüber der leinenumhüllten Leiche wieder. Der Wagen hatte praktisch keine Federung, und die beiden wurden heftig durchgeschüttelt, wenn er um Ecken bog oder über Schlaglöcher ratterte. Vorn forderte Dr. Tschestnowa den Fahrer lautstark auf, Zusammenstöße zu vermeiden und langsame Karren zu überholen. Gerginow hingegen war fast die ganze Fahrt über damit beschäftigt, sich eine Zigarette zu drehen. Trotz seiner Krampfanfälle und der Achterbahnfahrt schaffte er es schließlich und klemmte sich das fertige Produkt voller Zufriedenheit zwischen die Lippen.
Als er es angezündet hatte, wies er stirnrunzelnd auf die Leiche. »Ho-hoffentlich erwischen Sie den Ke-kerl. Wirklich unangenehm, we-wenn man so wa-was fo-fotografieren muss.« Er streckte die Hand mit der Zigarette aus. »Vor der Re-revolution habe ich Porträts von Lebenden gemacht. Fa-familien, Ki-kinder und so weiter. Aber seit der Re-revolution fotografiere ich nur noch To-tote.«
Es war schwer zu erkennen, wie diese Bemerkung gemeint war, da Gerginows normalerweise leise Stimme gegen das Motorengeräusch und die plärrende Tschestnowa ankämpfen musste. Koroljow musterte ihn scharf, um zu ergründen, ob er sich gerade einen lebensgefährlichen Witz erlaubt hatte.
Ohne Koroljow zu beachten, zog Gerginow an seiner Zigarette. »Da-damals die Ka-kapitalisten, die haben schon was dargestellt«, fuhr er fort. »Mit dem K-kleid von so einer Frau hätte man eine Familie ein ganzes Jahr lang ernähren können. Vi-vielleicht sogar zwei. Alles Ausbeutung, das w-weiß ich natürlich. Eine mit Blu-blut erkaufte Schönheit. Heute ist es besser. Ge-gerechter. Ich w-weine dieser Zeit k-keine Träne nach. Und wa-was ich heute mache, ist nützlich für die Ge-gesellschaft.«
Koroljow
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