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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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fragte sich, was wohl die Ermordete von so einer Aussage gehalten hätte.
    »Hi-hier.« Gerginow zog einen Flachmann aus Edelstahl aus der Tasche. »T-trinken Sie. Mein Nachbar arbeitet in einer Destillerie. Gute Qualität. Ich hab eine Fo-fotografie von seiner Frau für ihn gemacht. Nettes Ta-tauschgeschäft. Ehrlich gesagt, hätte ich es auch gra-gratis erledigt, aber er hat mir zwei Fl-flaschen gegeben, und da hab ich ni-nicht abgelehnt.«
    Koroljow griff zu, und der Wodka rieselte warm durch seine Kehle. Als ein starker Ruck durch den Wagen ging, glitt die eine Hand der Toten aus dem Leinensack und streifte sein Bein. Vorsichtig legte er sie wieder zurück und war erstaunt, wie weich die eiskalte Haut war.
    Nach der Ankunft beim Institut kletterte Koroljow mit einem Gefühl von Unbehagen aus dem Krankenwagen. Ein Teil seiner Abneigung gegen Autopsien rührte von der Brutalität der Prozedur her. Eine innere Stimme sagte ihm, dass man die Opfer von Gewalt in Ruhe lassen sollte nach allem, was sie durchgemacht hatten. Doch stattdessen wurden sie zerhackt, aufgeschnitten und gehäutet. In gewisser Hinsicht war es schlimmer als im Schlachthaus. Der tote Mensch, dem noch vor kurzem die Achtung entgegengebracht worden war, die einem sowjetischen Bürger zustand, war plötzlich nur noch ein Stück Fleisch, in dem Ärzte und Milizionäre herumstocherten. Nach dem, was ihnen zugestoßen war, hatten sie eigentlich Besseres verdient. Außerdem hatte er selbst nach vierzehn Jahren bei der Miliz und sieben Jahren Krieg Mühe, seinen Magen unter Kontrolle zu halten.
    Mit trockenem Mund stieg er die Stufen zum Institut hinauf. Nicht zum ersten Mal fiel Koroljow die trübsinnige Atmosphäre des Instituts auf. Vor der Revolution war es die Villa eines Adeligen gewesen, die dem Vergnügen gedient hatte. An den Decken waren noch immer nackte Cherubim auf Schäfchenwolken zu sehen, die lachend Trauben aßen vor einem blauen Himmel, der in krassem Gegensatz stand zu den weiß getünchten Wänden und dem schlichten Holzboden. Warum waren sie nicht übermalt worden? Vielleicht hatte es an dem betreffenden Tag keine passenden Leitern gegeben. Immerhin boten die Bilder den einzigen Lichtblick in einem Haus, das dank seiner Nutzung ansonsten nur Verzweiflung ausstrahlte. Am intensivsten war dieser Eindruck in der pathologischen Abteilung. Die glänzend weißen Wände, das gleißende elektrische Licht und die polierten Betonböden ergaben eine Mischung, die Schall, Raum und sogar Zeit zu verzerren schien. Immer wenn er hier eintrat, spürte er das Verlangen, sich hinzusetzen, das lastende Gewicht seines Kopfs in den Händen zu wiegen und im Gestank toter Träume und zerstörter Hoffnungen zu versinken. Auch diesmal stieg wieder Übelkeit in ihm auf, und er sah sich taumelnd nach einem Stuhl um, aber die Ärztin marschierte erbarmungslos weiter und zog ihn in ihrem Windschatten mit in die Hauptleichenhalle. Dort wurden zwei Wände von rechteckigen Stahlplatten gesäumt, hinter denen kalte Leichen auf leichtgängigen Fachböden lagen. Eine Mischung aus Formaldehyd, Desinfektionsmittel und süßlichem Verwesungsgeruch drang ihm in die Nase. Irgendwo tropfte ein Wasserhahn.
    »Hier sind jeweils zwei drin.« Tschestnowa wies auf die Stahlfächer. »Sogar im Autopsiesaal 1 stapeln sie sich schon.«
    Sie deutete durch ein Glasfenster. In einer Reihe auf dem Boden ruhten Leichen, immer zwei übereinander, jede in ein Tuch gewickelt und mit einem Nummernschild an einem blutleeren Zeh. Um sie herum waren Eiskisten aufgestellt wie wartende Särge.
    »Zu viele Leichen, zu wenige Pathologen, und jetzt werden auch noch die Autopsiesäle knapp. Die Bürger sollten sich zum Sterben lieber eine andere Stadt aussuchen. In Leningrad zum Beispiel ist die Situation nicht so schlimm. Vielleicht könnte die Partei Sonderfahrten organisieren.«
    Seufzend betrat sie den zweiten, kleineren Autopsieraum und lehnte sich mit geschlossenen Augen an den blankpolierten Stahltisch. Koroljow hätte es ihr gern nachgemacht, aber er wusste, dass er dann sofort in Ohnmacht fallen würde. Schon im Stehen spürte er, wie ihm die Müdigkeit den Nacken hinaufkroch und seine Lider nach unten drückte. Er ballte die Hand zur Faust und drosch sie hinter sich an die Wand in der Hoffnung, dadurch etwas wacher zu werden. Wie ein Pistolenschuss knallte der Schlag gegen den Stahl. Tschestnowa riss die Augen auf und schaute ihn bestürzt an. Noch als die Assistenten die Bahre

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