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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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Informationen genauso wie ich mich für seine, vor allem wenn die Verstümmelungen eine für ihn bestimmte Botschaft darstellen.«
    Babel nahm noch einen Schluck und seufzte. »Wissen Sie, als die Rennbahn nach dem Bürgerkrieg wiedereröffnet wurde, habe ich praktisch dort draußen gelebt. Es ist ein Ort, an dem ich mich glücklich fühle. Es geht nur um Pferde, und das ist beileibe nicht das Schlechteste.«
    Als bald darauf der letzte Wein getrunken war, verabschiedete sich Koroljow von dem Schriftsteller und wankte mit einer Papiertüte voller Käseklöße von Schura die Treppe hinunter. Er zog die Wohnungstür hinter sich zu und war besonders leise, als er Nataschas Kinderstimme und dann die ruhige, tröstende Antwort von Walentina Nikolajewna hörte. Er verharrte kurz im Gemeinschaftsraum und lauschte dem Pfeifen eines fernen Zugs. Draußen schneite es, und er trat ans Fenster. Eine Reifenspur auf der Straße verlor bereits ihre Umrisse. Das weiche gelbe Licht der Laterne gegenüber war friedlich wie auf einem alten Postkartenbild.
    Wenn sich der Beobachter in der Einfahrt nicht bewegt hätte, hätte er den Mann gar nicht entdeckt. Es war nur eine unmerkliche Verschiebung in der Dunkelheit. Doch als er die Hand seitlich ans Gesicht hielt, um die Augen gegen den Schein der Laterne zu schützen, und ein wenig an der Stelle vorbeispähte, wie er es im Schützengraben gelernt hatte, war er sich sicher, dort im Schatten die Umrisse einer Gestalt zu erkennen. Dann fiel ihm der niedergetretene Schnee unter dem Rundbogen auf. Wenn dort wirklich ein Beobachter stand, dann stampfte er anscheinend wegen der Kälte ab und zu mit den Stiefeln auf. Es war bestimmt nicht leicht, von dort unten in die dunkle Wohnung zu sehen, aber vielleicht hatte der Mann das Licht im Gang bemerkt, als Koroljow eingetreten war. Die Augen des Beobachters waren natürlich schon mehr an die Dunkelheit gewöhnt als die Koroljows, und er hatte auch bestimmt nicht den Fehler gemacht, direkt auf die Laterne zu starren, die diesen Teil der Straße beleuchtete. Möglicherweise schaute er in diesem Moment herauf und erkannte Koroljows Gesicht im Schein der Laterne, der alle Flächen im Gemeinschaftsraum mit einem schwachen Silberschimmer überzog. Nach einer erneuten flimmernden Bewegung war die Sache klar. Koroljow spielte mit dem Gedanken, hinunterzugehen und den Mann zur Rede zu stellen, doch dann überlegte er es sich anders. Eigentlich wollte er gar nicht wissen, wer so sehr darauf erpicht war, ihn im Auge zu behalten. Zumindest beobachteten sie ihn noch und trafen keine Anstalten, ihn ins Butyrka-Gefängnis zu verschleppen.
    Aber beim Ausziehen knipste Koroljow kein Licht an. Und als er sich zum Schlafen hinlegte, hatte er seine Walther unter das Kissen geschoben und einen Stuhl gegen die Türklinke gedrückt.
     
    Diese Arbeit war zermürbend
,
und es war nicht gerade von Vorteil, dass er schon seit fast einer Woche keine Nacht mehr durchgeschlafen hatte. Natürlich war es immer schwer, wenn man nach einem Auftrag nach Hause kam, und betriebsame Zeiten verschärften dieses Problem noch. Man konnte sich nicht einfach hinlegen, wenn man fertig war - Menschen waren schließlich keine Glühbirnen. Sie konnten nicht auf Knopfdruck abschalten. Sie brauchten Zeit, um sich an neue Situationen anzupassen. Wie heute Abend zum Beispiel. Der Gegensatz zwischen dem nächtlichen Frieden in der Wohnung und dem, was in dem leeren Haus passiert war, war einfach zu extrem. Daher wusste er, dass er noch lange auf den Schlaf warten musste. Er brauchte Geduld.
    Im Lauf der Jahre hatte er sich allmählich an die nächtlichen Aufträge gewöhnt. Es wäre auch gar nicht anders möglich gewesen. Nicht selten arbeitete er bis nach Mitternacht; nein, eigentlich war das sogar die Regel. Diese Zeit eignete sich eben besonders gut für seine Tätigkeit, weil die Menschen dann geistig und körperlich ihren Tiefpunkt erreichten. Aber auch er war nur ein Mensch, und es verlangte ihm größte Anstrengung ab, wach und hart zu bleiben und einem Gefangenen nichts anderes zu zeigen als Stärke, obwohl er vielleicht selbst erschöpft und am Ende seiner Kräfte war. Und danach fiel es ihm schwer, diese erzwungene Anspannung wieder abzulegen, auch wenn er sich noch so erschöpft fühlte. Er wurde nach Hause gefahren, denn sie wussten, dass seine Kraft kostbar war, und manchmal nickte er schon im Wagen ein, doch das passierte nur selten. Meistens starrte er einfach hinaus auf die leeren

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