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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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Straßen und dachte über den Menschen nach, den er gerade zerbrochen hatte.
    Heute Abend hatte er auf der Treppe vorsichtig die knarrenden Stufen vermieden und den Schlüssel lautlos in die Wohnungstür gesteckt. Drinnen schaute er ins Zimmer seines Sohnes und strich dem Schlafenden sachte über die Locken. Seine Finger wirkten rau auf den porzellanweißen Wangen des Jungen, und er versuchte, nicht an das Blut zu denken, das er in dieser Nacht vergossen hatte. Als sich sein Sohn bewegte und kurz mit der Andeutung eines Stirnrunzelns die Lippen vorschob, trat er schnell zurück. Aber der Kleine wachte nicht auf. Dafür war er dankbar - wer konnte wissen, was der Junge in seinen Augen entdeckt hätte. Er wünschte sich nur, sein Sohn könnte immer so bleiben, unschuldig und geschützt. Wer konnte sagen, dass der Junge sich nicht eines Tages in einem leeren Haus wiederfinden würde wie dem, das er gerade verlassen hatte? Und wenn er dann auch dort war? Vielleicht würden sie eines Tages von ihm fordern, seinen eigenen Sohn zu töten. Alles andere hatten sie ihm schon abverlangt. Seufzend zog er die Decke über das schlafende Kind.
    Im Gegensatz zu anderen hatte er nie Hunger, wenn er nach Hause kam. Er trank gern ein Glas, sicher, aber er hatte keinen Appetit auf Essen. Er saß lieber wie heute Abend in der Küche, schenkte sich einen Wodka ein und las ein wenig. Irgendetwas. Früher hatte er Shakespeares Stücke gelesen, aber dann hatte er es nicht mehr ertragen. Dort ging es zu viel um Recht und Unrecht, und er lebte in einer Welt, wo derartige bürgerliche Auffassungen unbrauchbar waren. Was bedeuteten sogenannte Tugenden wie Ehre, Mitleid und Gerechtigkeit vor dem Hintergrund einer Revolution? Sollten sich doch ihre Feinde mit diesem Unsinn herumschlagen - im Prisma eines vorbestimmten historischen Wandels waren sie unerheblich. Und dennoch warfen sie unbequeme Fragen auf, Fragen, wie sie seine Frau gestellt hatte, ehe sie ihn verließ. Er schenkte sich nach. Sie hatte ihn so oft spätnachts gesehen, dass sie keine Illusionen mehr darüber haben konnte, was für ein Mensch er war. Und er hatte auch keine mehr. Nicht ohne Grund gab es in der Küche keinen Spiegel.
    Wieder zwei Kanaillen erledigt - bei zweien fiel es einem ohnehin leichter. Der Fahrer hatte sie weit hinter Lefortowo gebracht und war von einer gewundenen Straße in einen Feldweg eingebogen. Wie dressierte Hühner lagen die beiden Banditen hinten im Kofferraum und blickten verwirrt umher, als sie herausgezogen wurden. Vielleicht hatten sie die Stadt noch nie verlassen, und es war das erste Mal, dass sie den Mond durch die kahlen Aste eines Waldes sahen. Zugleich war es das letzte Mal, dass sie den Mond überhaupt sahen.
    Im Haus herrschte die alles durchdringende Kälte einer seit langem verlassenen Wohnstatt, aber es gab drei Zimmer mit verschließbaren Türen, und als er sich an die Arbeit machte, wurde ihm auch schnell warm. Er spielte sie gegeneinander aus und nutzte den Schmerz des einen, um beide zu zermürben, trug Informationen von Zimmer zu Zimmer. Auch die Anwesenheit des Fahrers hatte ihm geholfen, und ausnahmsweise musste er sich keine Gedanken wegen des Lärms machen. Auch dafür war er dankbar.
    Danach hatte er sie unten im Keller erschossen und sie mit dem Fahrer zurück zum Wagen geschleppt. Diesmal sollten keine Spuren hinterlassen werden. Die Miliz untersuchte bereits die ersten beiden Fälle, da war es besser, sie nicht schon wieder mit zwei Leichen aufzuregen. Auch diese Ermittlungen bereiteten ihm Sorge. Bei früheren Aufträgen dieser Art hatte es nur eine Scheinuntersuchung gegeben. Und dass diesmal möglicherweise mehr dahintersteckte - nun, das brachte ihn ins Grübeln.
    Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass er stets nur seine Anweisungen befolgt hatte; und dass sie dem Ende immer näher kamen, stand fest. Von den zwei Banditen hatten sie nützliche Informationen erhalten, trotzdem war es eine unerfreuliche Geschichte. Sicher war es nicht das erste Mal, dass er an einer unvorschriftsmäßigen Aktion teilnahm. Normalerweise gab es allerdings eine Gruppe, es gab Vorbereitung und Abstimmung, eine klare Strategie. Diesmal kam fast gar keine Unterstützung. Da man offenbar nicht wusste, wem man innerhalb der Organisation noch vertrauen konnte, war die Operation personell auf das Allernötigste reduziert worden. Er selbst hatte als aktiven Helfer nur den Fahrer gesehen. Man hatte ihm gesagt, dass auch noch andere Personen

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