Russisches Requiem
erklärt.
»Aber ich bin hier doch in einer Zelle. Oder ist das vielleicht kein Gitter?« Sie zeigte auf das winzige Fenster hoch in der Wand gegenüber der Tür. Koroljow wunderte sich, dass sie das Gitter überhaupt erkennen konnte, so schmutzig war die Scheibe.
»Ich bin nicht der Architekt, Bürgerin. Auf jeden Fall ist das hier ein Verhörraum, sonst nichts. Und ich habe Sie gebeten hierzubleiben, damit Sie Hauptmann Koroljow genau beschreiben können, was Sie beobachtet haben.«
»Ich dachte,
Sie
untersuchen den Mord.«
»So ist es, aber Hauptmann Koroljow ist der leitende Ermittler in dem Fall.«
Mit leisem Schnauben zog die ältere Dame den abgetragenen braunen Mantel enger um sich und schob ihr silbernes Haar in den ausgefransten Samtkragen. Koroljow schätzte sie auf fünfundsechzig, mit einem ehemals hübschen Gesicht, das spitz geworden war von Hunger und chronischem Zynismus.
»Vielen Dank für Ihre Mithilfe, Bürgerin Kardaschewa. Das ist alles meine Schuld. Ich wollte persönlich hören, was Sie zu sagen haben.«
»Aber das ist einfach nicht in Ordnung. Ich habe nichts angestellt, und jetzt kann ich von Glück reden, wenn ich bei der Bäckergenossenschaft noch eine Kruste bekomme. Die Schlange ist bestimmt schon einen Werst lang, und das alles für ein Kilo Schwarzbrot zu einem Rubel und fünfundsiebzig Kopeken. Aber fahren Sie fort, fahren Sie fort. Stellen Sie Ihre Fragen. Ich habe nichts zu verbergen. Ich bin eine loyale Sowjetbürgerin, da wird Ihnen niemand was anderes erzählen.«
»Natürlich, das sieht man ja auch gleich.« Koroljow bemühte sich um einen besänftigenden Ton. »Tut mir leid, dass ich Sie noch einmal behelligen muss.«
Kardaschewas verkniffener Mund ließ sich zu einem fratzenartigen Lächeln erweichen, und sie neigte den Kopf, um anzudeuten, dass sie seine Höflichkeit zur Kenntnis genommen hatte.
»In der Mordnacht haben Sie eine junge Frau bemerkt, die zusammen mit zwei Männern in Richtung der Kirche gegangen ist, in der das Opfer gefunden wurde. Glauben Sie, Sie würden die Frau auf einer Fotografie erkennen?«
»Vielleicht. Ich sehe nicht mehr besonders gut, aber ich hatte die Brille auf, und die Straße ist gut beleuchtet.«
Koroljow legte das Bild von Mary Smithson auf den Tisch und schob es ihr zu.
Sie hob es mit ihrer langen, dünnen Hand auf und hielt es so, dass möglichst viel von dem schwachen Schimmer der Glühbirne darauf fiel. »Ich glaube schon. Es war dunkel, aber ich würde meinen, ja. Auf jeden Fall möchte ich nicht ausschließen, dass sie es war.« Sie legte die Fotografie zurück und verschränkte wieder die Arme.
Brusilow beugte sich vor, um das Bild seinerseits genau zu studieren.
Koroljow fuhr fort. »Auch Ihre Beschreibung der Kleider passt zu denen der Toten. Gehen wir also vorerst davon aus, dass die Frau, die Sie beobachtet haben, das Opfer ist. Ich möchte, dass Sie mir so viel wie möglich über die beiden Männer in ihrer Begleitung erzählen.«
Kardaschewa konzentrierte sich auf ihre Erinnerungen. »Einer von ihnen war ein richtiger Koloss. Eigentlich nicht besonders groß, aber sehr breit, wie ein Ochse auf zwei Beinen. Ich hatte Mitleid mit dem Mädchen. Ich dachte, er tut ihr bestimmt was Schlimmes an.«
»Warum haben Sie das gedacht, Bürgerin? Bei der ersten Befragung haben Sie das nicht erwähnt.«
»Na ja, man hätte sie für betrunken halten können. Dabei war sie nicht unsicher auf den Beinen, nein, aber der Koloss hatte sie mit dem Arm gepackt, und da hatte sie wohl kaum eine andere Wahl, als mitzukommen. Der Kerl hätte mit einer Hand ein Haus stemmen können, so bullig war der. Und das war bestimmt kein Fett. Alles nur Muskeln. Das hat man an seinem Gang gesehen.«
»Wie groß schätzen Sie ihn?«
»Vielleicht eins achtzig. Wie groß war das Mädchen? Er war ungefähr fünfzehn Zentimeter größer, würde ich sagen.«
Für Koroljow klang eins achtzig richtig. Laut Autopsiebericht war das Mädchen eins fünfundsechzig.
»Der andere hatte einen Filzhut auf, er war kleiner, aber immer noch größer als die Frau, und hatte einen Koffer dabei. Beide trugen lange Mäntel. Dunkel. Ihre Gesichter konnte ich nicht erkennen, nur dass das von dem Koloss breit war wie der ganze Körper. Den anderen habe ich eigentlich gar nicht richtig bemerkt. Der Koloss ist mir aufgefallen. Normale Arbeiter waren das auf keinen Fall. Aber das wissen Sie bestimmt besser als ich.«
»Wie meinen Sie das?«
»So wie ich es sage. Sie waren
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