Russisches Requiem
Prinzen bestimmt war. Schon der Eingang, über dem ein bronzenes Streitwagengespann thronte, ähnelte einem Triumphbogen. All das wirkte entschieden unsowjetisch, auch wenn ein großes Spruchband die Bürgerschaft zur frühzeitigen Erfüllung des Fünfjahresplans mahnte. Vielleicht war die Eleganz des Hippodroms der Grund, warum es hier mehrere Jahre nach der Revolution keine Veranstaltungen gegeben hatte. Der verdächtig adelig wirkenden Rennbahn war keine hohe Priorität zugemessen worden, solange in der Stadt Hunger herrschte und Schlachten geschlagen wurden. Doch nach dem Ende des Bürgerkriegs und dem Friedensabkommen mit den Polen war es wiedereröffnet worden. Schließlich wetteten die Moskauer immer noch gern, wenngleich die Zuschauer jetzt flache Mützen trugen statt Zylindern.
Semjonow bremste in sicherem Abstand von den Herumtreibern und Händlern beim Eingang und wandte sich an Koroljow. »Nah genug?«
»Ja, das passt.«
Koroljow schaute sich kurz um, ob sie beobachtet wurden, dann überprüfte er das Magazin der Walther und schob vorsichtshalber eine Patrone in den Lauf. Semjonow folgte seinem Beispiel. Wie immer lief Koroljow ein Schauer über den Rücken, als er das Waffenöl roch. Eigentlich rechnete er nicht damit, die Pistole benutzen zu müssen. Aber es war besser, gut vorbereitet zu sein, so wie es Popow befohlen hatte.
»Sie halten sich im Hintergrund. Ich ziehe mein Taschentuch heraus, wenn ich Hilfe brauche, aber auch dann werfen Sie sich bitte nicht allein dazwischen. Hier gibt es sicher einige Milizionäre, die holen Sie dazu. Kolja ist bestimmt nicht ohne Begleitung hier.«
Semjonow schaute Koroljows weißes Taschentuch an, wie um es sich einzuprägen. »Sie werden mich nicht bemerken, Alexei Dimitrijewitsch, aber ich lasse Sie nicht aus den Augen - großes Komsomol-Ehrenwort.«
»Gut. Geben Sie mir einen ordentlichen Vorsprung, ehe Sie mir folgen.«
Koroljow stemmte sich aus dem Automobil und spürte den beruhigenden Druck der Walther in der Achselhöhle, als er auf das Tor zustrebte.
An der Absperrung zahlte er fünfzig Kopeken Eintritt und trat in die spärlich illuminierte Eingangshalle, an deren Wänden Wandmosaiken den Ruhm der Gattung Pferd besangen - kaum sichtbar unter zwanzig Jahren Schmutz. Hier ein Kavallerievorstoß von galoppierenden Kosaken, die Nüstern der Rösser gebläht, die Zähne gebleckt; dort eine Kolonne der berittenen Artillerie, die sich durch eine Wüste voranschob. In einem staubverkrusteten Bild nach dem anderen pflügten, schleppten, kämpften, liefen, sprangen und zogen Pferde. Zum letzten Mal hatte er die Rennbahn vor dem Krieg gegen die Deutschen besucht, und er war überrascht, wie verwahrlost sie war. Damals war sie wahrhaft spektakulär gewesen, und der Duft der paradierenden aristokratischen Frauen hatte einer Wiese voller Sommerblumen geglichen. Jetzt war es hier weniger erfreulich. Die meisten Glühbirnen im Kronleuchter waren durchgebrannt, das Dach war undicht, und auf dem gefliesten Boden hatten sich Regenpfützen gebildet. Wenigstens hoffte er, dass es Regenwasser war, wenngleich der Geruch den Verdacht in ihm weckte, dass es sich um etwas anderes handeln könnte. Im Halbschatten bemerkte er Gesichter, von denen sich ein oder zwei abwandten, während ihn die anderen mit sonderbarer Intensität anstarrten. Da er keine Ahnung hatte, worauf diese Männer warteten, marschierte er weiter und streifte eine Hand ab, die ihn am Ärmel zupfte.
Der nächste Raum war besser beleuchtet. In einer Reihe von Glasbuden saßen mürrische Frauen in mittleren Jahren, und ein Mann mit Trittleiter schrieb die Quoten auf eine Tafel. An einem Stand wurde Essen verkauft, und im Austausch gegen sechzig Kopeken erhielt er zwei Scheiben Schwarzbrot, zwischen denen dünn geschnittene Wurstblätter hervorlugten. Als er abbiss, fiel ihm ein, dass er seine letzten Zigaretten in der Rasin-Straße geraucht hatte, und so erstand er an der nächsten Bude eine Zehnerpackung. Dann stieg er die grauen, von Sprüngen überzogenen Marmorstufen hinauf und drückte sich an einem wankenden Matrosen vorbei, der seine Stulle mit einem hungrigen Blick bedachte.
Trotz des Nieselregens, der bis unter das Tribünendach wehte, war es angenehm, wieder im Freien zu sein, und er seufzte erleichtert. Auf der Tribüne herrschte Hochbetrieb. Mehrere Tausende Moskauer drängten sich auf den Sitzplätzen und gaben jetzt ein aufgeregtes Johlen von sich, das sich von Sekunde zu Sekunde steigerte.
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