Russisches Requiem
von der Miliz oder von der Staatssicherheit, da bin ich mir sicher. Keine Vandalen oder Banditen. Das konnte ich sogar von der anderen Straßenseite aus sehen. Das laute Klacken von neuen Stiefeln auf dem Pflaster - so was hört man dieses Jahr nicht so oft in der Rasin-Straße. Man kriegt sie in keinem Geschäft, egal, was für Beziehungen man hat. Und dann der Gang - als ob ihnen alles gehören würde.«
Koroljow wusste, worauf sie anspielte. Selbst in Zivilkleidung waren diese Leute unverwechselbar. Manchmal waren es tatsächlich Kriminalbeamte, doch meistens handelte es sich um Tschekisten. Koroljows Blick glitt von den eigenen Füßen zu denen Semjonows und Brusilows. War er der einzige Polizist in ganz Moskau, der in diesem Winter mit Filzlatschen herumtrampelte?
Sie registrierte seine verdrossene Miene und lachte boshaft. »Ja, Hauptmann Koroljow. Ich glaube, Sie nutzen Ihre Stellung nicht richtig aus.«
»Ein wenig mehr Respekt, wenn ich bitten darf, Bürgerin.« Koroljow konnte seine Gereiztheit nicht verbergen. Wie zum Teufel kam es, dass alle anderen Lederstiefel hatten? »Haben Sie noch einen anderen Grund für Ihre Behauptung, dass die Männer Kriminalermittler waren?«
»Ich habe nicht gesagt, dass das Kriminalermittler waren. Sondern hohe Tiere. Sie sind kein hohes Tier, mein lieber Hauptmann. Ganz im Gegenteil. Und der Junge auch nicht. Bei Genosse Brusilow hier wäre es möglich, trotzdem ist er keins. Aber diese zwei Kerle - nun, das war eben ihr Beruf.«
Also eindeutig Tschekisten. Brusilow zuckte mit den Achseln, während Semjonow seine Zustimmung mit einem Nicken zum Ausdruck brachte.
Nach einigen weiteren Fragen musste Koroljow akzeptieren, dass die Frau sonst nichts zu erzählen hatte. »Sie können jetzt gehen, Bürgerin. Und vielen Dank für Ihre Hilfe. Wenn Sie einen der Männer zufällig irgendwo wiedererkennen, rufen Sie mich bitte in der Petrowka-Straße an. Die Vermittlung wird Sie durchstellen. Sie können sich aber auch an Hauptmann Brusilow wenden.«
»Wissen Sie, ich habe keine Angst davor, zu sagen, dass zwei Tschekisten in einen Mord verwickelt sein könnten.« Seufzend hob sie das Kinn, stolz oder auch resigniert. »Wenn ich jünger wäre, würde ich mich vielleicht fürchten. Aber was ich gesehen habe, habe ich gesehen. Da bleibt mir doch gar nichts anderes übrig. Es ist meine Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Haben wir das nicht alle in der Schule gelernt?«
Vor der Revolution vielleicht, dachte Koroljow. Er wies mit dem Kopf zur Tür. »Leutnant Semjonow wird Sie hinausbegleiten. Noch einmal vielen Dank, Bürgerin.«
Als sie das Zimmer verlassen hatte, wandte er sich an Brusilow. »Was halten Sie davon?«
»Eigentlich undenkbar. Für solche Dinge haben die Tschekisten doch die Lubjanka, die Butyrka und ein halbes Dutzend andere Gefängnisse. Für mich klingt das unwahrscheinlich. Haben Sie sonst noch irgendwelche Anhaltspunkte?«
Koroljow erzählte ihm von dem Emka, den elektrischen Wundmalen und dem toten Banditen.
Brusilow scharrte mit einer breiten Hand über sein unrasiertes Kinn. »Bin bloß froh, dass das nicht mein Fall ist. Die Sache stinkt. Aber wenn wir auf etwas stoßen, geben wir es natürlich weiter. Im Augenblick überprüfen wir noch die Komsomol-Mitglieder, die die Kirche besucht haben.« Seine hochgezogene Augenbraue ließ darauf schließen, dass er das für reine Zeitverschwendung hielt.
»Kann nicht schaden.« Koroljow griff nach einer Zigarette und bot auch Brusilow eine an.
Der lehnte seufzend ab und wechselte das Thema. »Haben Sie gestern Nacht die Explosion gehört?«
Nach kurzem Nachdenken schüttelte Koroljow den Kopf.
»Wieder eine Kirche. Sie haben sie schon halb abgerissen. Um Platz zu schaffen für die Oktoberparade.« Brusilows Worte klangen neutral und verrieten keine positiven oder negativen Gefühle in der Sache. »Vielleicht nehme ich doch eine Zigarette.«
Gerade als er sie anzündete, trat Semjonow ein und reichte Koroljow mit erwartungsvoller Miene eine Nachricht.
Kommen Sie um halb zwei zur Rennbahn. Nehmen Sie auf der Tribüne Platz, auf Höhe des Zielpfostens. Ich werde da sein. Unser Freund möchte Sie treffen. I. E. B.
16
Auf Koroljow hatte das Moskauer Hippodrom schon immer eher den Eindruck eines Museums als den einer Sportstätte gemacht. Mit seinen Säulen und seiner Pracht erschien das langgezogene weiße Gebäude wie das Überbleibsel aus einer fernen Zeit: ein Bau, der nicht für Proletarier, sondern für
Weitere Kostenlose Bücher