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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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schwarzen Matsch auf die Straßen zu werfen. Bei diesem Schmuddelwetter hielt er es nicht für sehr wahrscheinlich, dass er die Straßenkinder aufspüren konnte. Doch neben der Kirche befand sich ein tagsüber bemannter Milizposten, bei dem er für alle Fälle nachfragen wollte.
    Der Wachtmeister prüfte seinen Ausweis mit großer Sorgfalt. Koroljow hatte den Verdacht, dass er sich die Worte einzeln vorbuchstabierte.
    »Ko-rol-jow?« Der ältere Milizionär runzelte die Stirn, als wäre er sich der Aussprache nicht sicher. Der kleine Stand hatte zwar ein Dach, war aber an den Seiten offen. Der graue Bart und die Augenbrauen des Mannes waren glitschig vom Regen. Er ähnelte einem nassen Nikolaus.
    »Aus der Petrowka-Straße. Ich untersuche den Mord von Anfang der Woche.«
    »Ach«, erwiderte der Wachtmeister voller Abscheu. »Was wird nur aus der Welt, Genosse, wenn sie jetzt schon junge Frauen in einem Gotteshaus umbringen? Es steht wirklich schlimm. Nun, wir sind natürlich alle Atheisten, aber manche Dinge sollten einfach nicht passieren. Das ist Teufelswerk. Jetzt erinnere ich mich übrigens wieder an Sie. Sie waren am Vormittag hier, nachdem wir sie gefunden hatten. In Uniform, nicht wahr?«
    Auch so ein Atheist wie ich, dachte Koroljow. Von dieser Sorte gab es anscheinend einige. »Richtig. Hören Sie, Genosse, an dem Vormittag waren hier doch auch mehrere Besprisorniki - haben Sie vielleicht eine Ahnung, wo ich sie finden könnte? Sie waren sehr jung, höchstens zehn, schätze ich. Einer hatte rote Haare, blaue Augen, ein schmales, knochiges Gesicht und eine dicke, gefütterte Jacke. Klingelt es?«
    »Bei dem Bengel klingeln alle Glocken von Moskau, Genosse Hauptmann - ein künftiger Rabauke, wie er im Buche steht. Heißt Kim Goldstein. Seine Eltern wurden in etwas verwickelt - Sie wissen ja, wie es gehen kann. Wer weiß, wo sie gelandet sind, am besten gar nicht fragen. Der Kleine musste sich also allein durchschlagen, und seitdem ist der Frechdachs nicht mehr zu bremsen - ein- oder zweimal habe ich seinen Kragen in der Hand gehabt, aber ich konnte mich nicht überwinden, ihn festzunehmen. Obwohl es vielleicht besser wäre. Er hat kein Gramm Fleisch auf den Knochen und wird den Winter garantiert nicht überleben, wenn ich ihn nicht aufsammle.«
    Koroljow fragte sich, ob die Eltern ihren Jungen nach der Figur von Kipling oder nach der sowjetischen Abkürzung für die Kommunistische Jugendinternationale benannt hatten. Er hoffte Ersteres, denn in seiner schwierigen Situation konnte dem jungen Burschen ein wenig Einfallsreichtum bestimmt nicht schaden.
    Zehn Minuten später stand Koroljow am Ende einer Gasse und beobachtete mehrere baufällige Ställe, die niedergerissen werden sollten, um einer Telefonzentrale zu weichen. Doch fürs Erste waren sie das Versteck der Besprisorniki. Von der anderen Seite ertönte die Pfeife des Wachtmeisters, und unmittelbar darauf stoben zehn oder zwölf Straßenkinder heraus und nicht etwa drei oder vier, wie Koroljow erwartet hatte. Als sie ihn bemerkten, hielten sie an und blickten unsicher zurück in die Richtung, aus der sich die Pfiffe näherten.
    »He, Alter! Stell dich nicht dem Kollektiv in den Weg!« Die Stimme kam von weiter hinten. »Hör lieber auf ihn, Opa. Wir erstürmen jede Festung!«
    Ihre Stimmen klangen unglaublich jung, doch ihre zornigen Augen bohrten sich wie Scheinwerfer durch das nasse Halbdunkel. Koroljow wollte schon nach seiner Pistole greifen, beherrschte sich aber. Das waren doch nur Rotznasen, die Sprüche aus Filmen riefen.
    »Stehen geblieben, ich bin Kriminalbeamter.« Er legte so viel Strenge in seine Stimme wie möglich, doch in diesem Augenblick erschien der Wachtmeister in der Stalltür, und prompt schoss die ganze Horde auf ihn zu. Koroljow bückte sich und erkannte Goldstein. Ob er oder ein anderer, war zwar gleich, aber da er schon mit ihm gesprochen hatte, entschied er sich für ihn. Er packte den Jungen um den Bauch, fühlte ein heftiges Gewoge zwischen den Händen, als der Bengel fast aus dem unteren Ende der gefütterten Jacke rutschte, und erwischte ihn gerade noch am Bein. Er hatte angenommen, dass die anderen weiterrennen würden, doch stattdessen spürte er Füße, die nach ihm traten, Hände, die ihn an den Haaren zogen, und eine kleine Faust, die ihm qualvolle Schläge in den Unterleib versetzte.
    Er schwenkte Goldstein wie eine Waffe durch die Luft, und dann machte sich schon der Wachtmeister brüllend mit dem Schlagstock über

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