Russka
von dem türkischen Hafen Azov überwacht, und die türkische Flotte hatte die absolute Vormachtstellung im Schwarzen Meer.
Dazu kam, daß der Khan der Krim-Tataren Plünderer über die Steppe schickte, die aus den ukrainischen Dörfern zu Tausenden Sklaven verschleppten und sie auf die Sklavenmärkte des Mittleren Ostens schickten. Der Khan besaß sogar die Dreistigkeit, vom Zaren Tribut zu fordern, und wenn auch diese Forderung unerfüllt blieb, so hielt es die russische Regierung dennoch für angebracht, ihm hübsche Geschenke zu schicken.
So war es nicht verwunderlich, daß Peter nach Norden und Süden aufbrechen wollte. Schiffe – ja, das war die Antwort. Peter hatte selbst ein Schiff gebaut. Er hatte hoch oben im Norden die Schiffe der Fremden beobachtet. Das war es, was er brauchte – eine Flotte, die den Don hinunterfuhr und an Azov vorbei ins Schwarze Meer vorstieß. Es war an der Zeit, daß aus seinen Kriegsspielen Ernst wurde. Für die Fahrt auf dem Don sollten zuerst Galeeren, dann große Schiffe fürs Meer gebaut werden.
Nikita war von diesem Abenteuer ebenfalls begeistert. Der ehemalige Beamte, nun fünfundsechzig Jahre alt, hatte eine neue Pacht auf Lebenszeit erworben. Und seine Güter lieferten Holz zur Genüge.
»Der Zar braucht Bauholz und Eschenholz für seine Flotte«, sagte Nikita und machte dem Zaren unverzüglich Holz zum Geschenk. Als 1696 die Nachricht vom Fall der türkischen Festung Azov kam, geriet Nikita ganz aus dem Häuschen.
Während des Feldzugs nach Azov war Peters gebrechlicher Halbbruder Ivan gestorben. Als Peter im Triumph nach Moskau zurückkehrte, bedeutete das, daß er nun mit vierundzwanzig Jahren allein auf dem Thron saß.
»Er hat vielleicht eine wilde Natur«, erklärte Nikita seiner Frau, »aber jetzt werden wir Großes erleben.«
Peters glorreicher Einzug in der Hauptstadt fand an einem sonnigen Oktobertag des Jahres 1696 statt. An der Moskwa hatte man einen Triumphbogen nach römischem Vorbild errichtet, mit großen Statuen von Mars und Herkules zu beiden Seiten und auch einer Abbildung des türkischen Paschas in Ketten. Den Festzug führte Peters Erzieher in Rüstung an. Es folgte der Schweizer Lefort in einer vergoldeten Kutsche, danach weitere Kutschen. Schließlich ein Karren mit einem Verräter, der während des Feldzuges auf Seiten der Türken gefaßt worden war. Die für ihn vorgesehenen Folter- und Exekutionswerkzeuge lagen neben ihm. Und am Ende dieses meilenlangen Festzuges kam Peter. Er bot einen respektablen Anblick mit seiner hohen, athletischen Gestalt, der schwarzen Haarmähne, einem Kosakenschnurrbart und durchdringenden Augen. Er trug allerdings keine russische Kleidung, sondern eine deutsche Uniform, einen schwarzen Mantel und einen riesigen schwarzen Dreispitz, an dem keck eine lange weiße Feder steckte.
Priester waren nicht zu sehen. Keine Ikonen, keine Kirchenbanner wurden dem Zug vorangetragen. Keine Begrüßungsansprache des Patriarchen, keine Kirchenglocken. Eine heidnische Prozession zog in die Hauptstadt des Heiligen Rußland ein. »Sogar die Römer hatten ihre Götter«, murmelte Nikita. »Selbst der Tschingis-Khan, ein Heide, hat die Kirche nicht verachtet.« Eudokia starrte voller Abscheu auf die Szene. »Als seine Mutter starb und er nicht einmal an ihrem Sterbebett stand, hielt ich ihn einfach für kalt und ungezogen«, bemerkte sie, »doch jetzt habe ich das Gesicht des Leibhaftigen gesehen.«
Im Jahr 1698 tat Peter etwas, was vor ihm kein anderer russischer Herrscher getan hatte. Er reiste ins Ausland. Prokopios durfte ihn begleiten.
Eudokia verbrachte die meiste Zeit in Russka, wo sie viele Stunden mit den Priestern Silas, Daniel und seiner Familie zusammen war. Als Peter und ihr Sohn zurückkamen, brach in Moskau die Hölle los.
An einem warmen Tag Ende September näherte sich Daniel der Hauptstadt. Seine Gefühle schwankten zwischen Neugier und Furcht. Ob die Gerüchte, die er seit der plötzlichen Rückkehr des Zaren gehört hatte, der Wahrheit entsprachen? Seit vielen Jahren war er nicht mehr in Moskau gewesen, doch als er die Aufforderung bekam, die fromme Frau Eudokia aufzusuchen, war er unverzüglich mit Frau und Tochter aufgebrochen.
Er und Arina waren nach fast fünfzehn Jahren – sie hatten die Hoffnung längst aufgegeben – mit einer Tochter gesegnet worden.
Daniel fragte sich oft, wie Gott ihnen in dieser schlimmen Zeit ein solches Geschenk machen konnte. Bei der Geburt des Kindes, das nun sechs Jahre alt
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