Russka
war, war Arina neununddreißig und er hoch in den Sechzigern gewesen.
Sie stellten überrascht fest, daß das Mädchen keinem von ihnen ähnelte. Die alte Elena löste das Rätsel. »Sie ist deiner Mutter, meiner Marjuschka, wie aus dem Gesicht geschnitten«, sagte sie zu Arina.
Also wurde das Kind Marjuschka genannt. Die alte Elena saß die letzten drei Jahre ihres Lebens täglich neben der Kleinen, so als wäre es ihr eigenes Kind.
In welch finstere Zeit war Marjuschka hineingeboren! In ganz Rußland, besonders jedoch im Norden, verfolgte die Regierung die raskolniki weiterhin. Manche von ihnen suchten das Märtyrertum, indem sie die Obrigkeit herausforderten. Andere setzten ihre Gottesdienste im geheimen fort.
Silas und Daniel hatten sich mit Awakums Freunden beraten und waren zu einer weisen Entscheidung gekommen. »Es hat keinen Sinn, sich den Haß der Regierung zuzuziehen«, erklärte Daniel seiner Familie. »Der Erlaß ist falsch, aber vielleicht wird er in Zukunft abgeändert. Wir werden weiterhin in aller Stille beten, wie man es uns gelehrt hat. Wir suchen keinen Streit, aber wenn es zur Verfolgung kommt, müssen wir uns der Sache stellen. Wir sind in Gottes Hand.« Diesen Kurs schlugen Hunderte, ja Tausende von kleinen Gemeinden im weiten Land ein. Für Daniel war die Hauptstadt voller Gefahren. In ebendiesem Sommer, als Peter noch im Ausland war, hatten die Strelitzen erneut revoltiert. Zum Glück für Peter war es seinen Ratgebern gelungen, den Aufstand rasch niederzuschlagen. Der Zar hatte sich jedoch eilig auf den Heimweg begeben, und nun wartete ganz Rußland, was sein junger Herrscher unternehmen würde. Als die Reisenden die Vorstadt erreichten, schien in der weiten Stadt alles ruhig. Ihr kleiner Wagen näherte sich langsam der äußeren Stadtmauer, durchquerte ein Tor und gelangte schließlich zum Kitajgorod, wo die Bobrovs ein gediegenes Haus besaßen. Daniel führte Frau und Tochter in den großen staubigen Hof. Als der graubärtige Nikita erschien und sie höflich begrüßte, legte Daniel seine Hand aufs Herz und verneigte sich tief. Gleich darauf trat auch Eudokia lächelnd heraus; vor ihr ging eine Dienstmagd und brachte Brot und Salz zum Empfang.
Dann unterhielten sich die reichen Bobrovs und die armen Handwerker wie alte Freunde, tauschten kleine Neuigkeiten aus. Selbst Nikita, der ja auch alt wurde, empfand nun die Anwesenheit dieser einfachen Leute als ungemein wohltuend. Plötzlich sah Daniel, wie Eudokia sich starr aufrichtete und wie ein merkwürdig verlegener Ausdruck in Nikitas Gesicht trat. Und schnell sagte Nikita mit gespielter Herzlichkeit: »Ach, da ist ja mein Sohn Prokopios.«
Zu den Freunden des jungen Zaren hatten in Preobrazenskoe alle möglichen Leute gehört: Mitglieder alter Fürsten- und Bojarenfamilien, Söhne aus dem höheren oder niederen Adel, sogar Leute niedriger Herkunft wie Peters Favorit Menschikov, der als Kind angeblich Backwerk auf der Straße verkauft hatte. Sie alle hatten etwas gemeinsam: Sie waren Peter treu ergeben. Und da gab es natürlich die Ausländer in der Deutschen Vorstadt. Prokopios hatte das Glück, daß Peter ihn von Anfang an charmant und intelligent fand und ihn aufgrund seiner Schlagfertigkeit nicht nur zu den Zusammenkünften mit dem Militär, sondern auch zu den häufigen Gesellschaften in der Deutschen Vorstadt zuzog. Das hatte Prokopios eine neue Welt geöffnet.
Die Deutsche Vorstadt unterschied sich in nahezu allem vom übrigen Moskau. Die breiten Straßen boten einen gepflegten Anblick. Die Häuser waren aus Klinker oder anderem Stein erbaut und mit planvoll angelegten Gärten umgeben. Kurz und gut – eine kleine europäische Oase mit bürgerlicher Ordnung und Kultur, abgeschirmt gegen den andersartigen, asiatisch geprägten »Wirrwarr«
Moskaus. Die kleinen protestantischen Kirchen wirkten licht und luftig, verglichen mit den Moskoviter Kirchen in ihrem fahlen Goldschimmer.
Unter den mehreren tausend Kaufleuten und Soldaten, die hier lebten, waren auch einige, deren Vorfahren bereits drei oder vier Generationen zuvor eingewandert waren. Für die Russisch-Orthodoxen waren sie aber nach wie vor dumme Ausländer. Hier lebten auch Engländer, die mit den Waffen und der Taktik der modernen Kriegführung vertraut waren, und Deutsche, die trotz gegenteiliger Ansicht der Russen alles andere als dumm waren und mehrere Sprachen beherrschten. Hier lebten Holländer, die wußten, wie man seetüchtige Schiffe baute und zur See fuhr. Es
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