Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
Ordnung. Sie haben sogar das Meer gezähmt. Ich habe die großen Mauern gesehen, nicht wie unsere hölzernen Wände quer durch die Steppe gegen die Tataren, sondern riesige Steinwälle, damit das Meer nicht eindringen kann. Man nennt sie Deiche. Sie haben dem Meer Land abgerungen und Felder angelegt – Tausende.«
    Nikita sah nicht sonderlich beeindruckt drein. »So etwas brauchen wir nicht in Rußland. Wir haben endlos viel Land.«
    »Ich weiß«, fuhr Prokopios erregt fort, »das ist es nicht; aber, Vater, sie haben die Natur besiegt.«
    Nikita lachte. »Du meinst also, du und der Zar, ihr seid zurückgekommen, um der Mutter Natur euren Willen aufzuzwingen?« fragte er ungläubig. »Die Natur in Rußland ist mächtiger als jeder Zar, mein lieber Prokopios. Man kann ihr nichts aufzwingen.«
    »Warte nur, bis Zar Peter damit anfängt«, erwiderte der Sohn kühl. »Gott schuf die Natur«, warf Eudokia ein, »und wenn ihr versucht, eure Ordnung der Natur aufzudrängen, so ist das purer Hochmut. Du und dein Zar, ihr seid gottlos.«
    Prokopios stellte bekümmert fest, wie weit seine Mutter sich ihm entfremdet hatte. Aber auch wenn sie seine Überzeugung nicht teilte – er war in der Welt herumgekommen und hatte ihre Ordnung kennengelernt und glaubte, daß Rußland unter einem starken Herrscher und mit ungeheurer Anstrengung von oben auch eine neue Ordnung aufgezwungen werden könne.
    Was hatte die diplomatische Mission tatsächlich erreicht? Peter hatte den Schiffbau studieren wollen, und das war ihm auch gelungen. Er wollte eine neue Bewaffnung und besseres Schießpulver, er wollte sich Kenntnisse in neuzeitlichen Kampfmethoden, vor allem zur See, aneignen. Dies alles hatte er erreicht. Und dazu hatte er neue Handelswege erschlossen.
    Auf diplomatischem Parkett versagten die Russen allerdings. Niemand wollte gegen den türkischen Sultan kämpfen. Doch entscheidend waren letztlich die langfristigen Folgen der diplomatischen Mission. Männer wie der schlaue Peter Tolstoj kamen zurück mit einem Schatz an Beobachtungen, Fremdsprachenkenntnissen und zumindest einem Einblick in europäische Erziehung und Kultur.
    Prokopios Bobrov nun besaß zwar keinen großen Bildungsdrang, doch er hatte genügend erfahren, um zu sehen, daß seine Heimat Jahrhunderte nachhinkte.
    Und dieser junge Mann betrat soeben den Hof. Daniel starrte ihm ungläubig entgegen. Prokopios trug eine schicke, engsitzende grüne Uniformjacke, die nach deutscher Sitte vorn durchgeknöpft war, dazu Breeches und Kniestrümpfe. Bis auf einen gepflegten Schnurrbart war sein Gesicht glatt rasiert. Natürlich waren während Daniels Kosakentagen in der Ukraine glattrasierte Männer ein gewohnter Anblick gewesen. Doch hier im Norden – daß Nikita Bobrovs Sohn so etwas machte!
    »Die Freunde des Zaren kamen von ihrer Reise glatt rasiert zurück«, meinte Nikita entschuldigend.
    »Der Zar hat den Bojaren bei Hof persönlich die Bärte abrasiert«, erinnerte sich Prokopios. »Er sagte, er könne keine so primitiv aussehenden Männer an seinem Hof dulden.« Primitiv! Bei diesem Wort zuckte Daniel zusammen. Er sah, wie Eudokia zurückfuhr, als wäre sie geschlagen worden. Prokopios hatte sie absichtlich beleidigt.
    Nikita Bobrov schien diese Unhöflichkeit zu ignorieren. Er wandte sich fragend an seinen Sohn: »Du kommst von Preobrazenskoe?«
    Prokopios nickte. »Es ist beschlossene Sache. Wir haben einige Geständnisse. Morgen finden die ersten Hinrichtungen statt.« Er nahm seinen Vater beim Arm. »Komm«, sagte er, »ich will dir mehr berichten.« Und er führte ihn ins Haus.
    Als sich nun Eudokia Daniel und seiner Familie wieder zuwandte, hatte sie Tränen in den Augen. »Gott sei Dank, daß ihr gekommen seid.« Sie weinte leise.
    Allmählich begriff Daniel das Ausmaß des Schrecklichen, was vor sich ging. Im Lauf dieses Winters wurde ihm immer deutlicher, warum Eudokia seine Anwesenheit so nötig brauchte. Er wußte allerdings nicht, wie er sie trösten konnte. Wie Prokopios gesagt hatte, begannen die Hinrichtungen der meuternden Strelitzen einen Tag nach Daniels Ankunft. Sie hätten bereits früher anfangen können, doch die Verhöre waren sehr schwierig. Nur wenige der meuternden Soldaten waren zur Aussage bereit. Es war in Rußland damals üblich, in ähnlichen Fällen den Gefangenen ein Geständnis durch die Knute zu entlocken.
    Mitunter hört man, die berüchtigte russische Knute sei eine Art Peitsche oder ein Dreschflegel wie die englische neunschwänzige

Weitere Kostenlose Bücher