Russka
gab dort Wunderdinge, von denen die Russen keine Ahnung hatten. Eines Tages etwa brachte ein treuergebener General in der Annahme, dem Kinderzaren eine Freude zu machen, von einer Reise ein Astrolabium mit zurück, mit dessen Hilfe, so erklärte er, die schlauen Ausländer nach der Sonne und den Sternen navigieren konnten. Peter war begeistert. Niemand bei Hofe hatte so etwas je gesehen.
Der General mußte allerdings verlegen zugeben, daß er überhaupt nicht wußte, wie das Instrument funktionieren sollte. »Ich habe vergessen zu fragen.«
Daß dieses Astrolabium damals schon an die zweitausend Jahre in Gebrauch war, wußten sie nicht.
Doch der junge Zar machte auf der Stelle einen Holländer ausfindig, der ihm das Instrument erklärte, und saß tage- und wochenlang an einem Übungsheft, bis er das Instrument zu bedienen verstand. Prokopios hatte die Deutsche Vorstadt mittlerweile gründlich kennengelernt. Wenn er auch nicht Peters unglaublichen Wissensdurst hatte, erkannte er doch mit der Zeit, welche Macht Wissen bedeutete. Tatsächlich hielt er sich inzwischen selbst für einen fortschrittlichen Menschen, seiner Zeit voraus, bis er mit auf diplomatische Mission ins Ausland geschickt wurde.
Die Mission des Zaren nach Westeuropa ist zu einem so volkstümlichen Begriff in der Weltgeschichte geworden, daß ihre wahre Natur häufig vergessen wird. Peters Motiv waren Kriegsvorbereitungen, vorerst gegen die Türkei gerichtet. Westliche Länder sollten auf diplomatischem Weg zum Beitritt zu einer antitürkischen Allianz bewegt werden. Die praktische Seite der Reise war das Studium des Schiffbaus, damit Rußland eine eigene Flotte bauen könnte. Bereits 1696 hatte Peter kurz nach seinem Sieg bei Azov fünfzig Russen nach Westeuropa gesandt, damit sie Navigation und Schiffbau erlernten. Unter ihnen befand sich der zweiundfünfzigjährige Peter Tolstoj.
Seine eigene diplomatische Mission folgte bald darauf. Doch warum ging Peter selbst mit? Und warum reiste er inkognito – offiziell nur als jüngeres Mitglied der von seinen Botschaftern geleiteten Gruppe?
Wahrscheinlich hatte er dadurch mehr Freiheit, sich auf eigene Faust in den westlichen Werften umzusehen. Sicher arbeitete er monatelang als Schiffbauer und lernte das Handwerk von Grund auf.
Und sicher hatte er, der eifrige Anhänger der Fidelen Gesellschaft, auf diese Weise auch mehr Gelegenheit, den Narren zu spielen. Auch das gehörte für ihn und seinen Freund dazu. In London waren sie bei dem distinguierten Tagebuchschreiber John Evelyn untergebracht, und sie verwüsteten Haus und Garten so gründlich, daß der berühmte Sir Christopher Wren nach einer Besichtigung den Schaden mit der erstaunlich hohen Summe von dreihundertfünfzig Pfund ansetzte. Unter anderem mußte der Fußboden erneuert und die Delfter Kacheln an den Öfen ersetzt werden. Die Türschlösser aus Messing waren beschädigt, die Federbetten aufgeschlitzt. Die Rasenanlagen und die lange, hohe Stechpalmenhecke, von der Gartenbaugesellschaft mit einem Preis bedacht, waren ruiniert. Auf diese Weise setzte sich Zar Peter in den Jahren 1697 und 1698 mit der europäischen Kultur auseinander.
Die Länder des Baltikums, den Hafen von Riga, die deutschen Staaten Brandenburg und Hannover, Holland, England, das habsburgische Wien, Polen… Prokopios sagte später, er habe eigentlich nicht andere Länder, sondern ein anderes Jahrhundert bereist. Die zweitausend Jahre alte philosophische Tradition von Sokrates bis Descartes, die Kenntnis fremder Länder, die Pracht der Renaissance, die Anfänge moderner Wissenschaft und vor allem die vielschichtigen und wandlungsfähigen europäischen Gesellschaftsstrukturen mit ihren alten Institutionen, Berufen, ihrer Rechtsprechung und ihren Moralbegriffen – von alledem hatte ja nur eine Handvoll Russen eine Vorstellung. Aus Peters Gefolge machte sich keiner einen Begriff von dem Gesehenen, Peter sicherlich auch nicht. Das konnte er nicht: Rußland lebte in einem anderen Jahrhundert.
Prokopios war, ebenso wie Peter, beeindruckt von den Schiffen und den riesigen Häfen, von den Geschützen an Bord und von dem Schießpulver, das dem russischen weit überlegen war. Als er nach seiner Rückkehr vom Vater gefragt wurde, welches Land er am meisten bewunderte, antwortete er: »Ich glaube, Holland.«
»Warum?« wollte Nikita wissen. »Wegen der Schiffe, wegen ihres Handels?«
»Nein.« Prokopios schüttelte den Kopf. »Es ist…«, er suchte nach dem Wort, »… ihre
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