Russka
Marktes, die wiederum von drei weiteren gekreuzt wurden. Hinter der Kirche verlief nun eine breite Allee bis ins Zentrum, und auf einer Seite standen drei hübsche Steinhäuser mit klassizistischen Attributen. Sie gehörten Handelsherren. Am Ende dieser Allee lag ein kleiner Park; hinter diesem war ein Stück der alten Festungsmauer abgetragen und eine Promenade angelegt worden, von der aus man einen hübschen Blick über den Fluß und die umliegende Landschaft hatte. Außerhalb der Mauern lagen verstreut Hütten und kleinere Landgüter. Die Bevölkerung zählte etwa tausend Menschen. Russka war es gelungen, sich einen kleinstädtischen Charakter zu bewahren. Der gute Sawa – wie nahe waren sie sich in den vergangenen Jahren gekommen! Tatjana war jetzt manchmal ziemlich einsam. Alexander kränkelte, und das machte ihn schweigsam. Sergej war im Außenministerium beschäftigt, was ihn an St. Petersburg und Moskau band. Olga hatte vor kurzem einen attraktiven jungen Gardeoffizier mit einem Besitz in der Nähe von Smolensk geheiratet. Auch Alexej war verheiratet; man hatte ihn ans Schwarze Meer in den bedeutenden Hafen Odessa versetzt. Im vergangenen Monat war ihm ein Sohn geboren worden, den er Michail nannte. Nun bleiben also nur noch Ilja und ich, dachte Tatjana betrübt. Ilja war zwar zu Hause, aber gewöhnlich war er in seiner friedlichen Art in ein Buch vertieft.
Sawa und sein Vater führten zwei kleine Fabriken in Russka; in jeder waren ein Dutzend Leute beschäftigt. In der einen wurde wollenes Tuch gewebt, in der anderen Leinen. Im vergangenen Jahr konnte Tatjana ihren Mann überreden, Sawas Vater als Aufseher auf dem Besitz in Rjazan einzusetzen, mit dem Ergebnis, daß die Erträge sehr bald erkennbar stiegen. Tatjana fuhr häufig nach Russka, beobachtete die Betriebsamkeit der Suvorins und sprach mit Sawa übers Geschäft. Diese Gespräche hatten sie auf eine Idee gebracht.
Rußland veränderte sich, und die Veränderung fand genau in der Gegend statt, in der sie lebte. Es hatte in Rußland immer Quellen für Reichtum gegeben, die auszuschöpfen waren: Salzvorkommen und Felle in der riesigen Wildnis des Nordens; die fruchtbare schwarze Erde, der tschernozem der warmen Ukraine; und seit der Zeit Ivans des Schrecklichen die Bodenschätze des Ural.
Und nun fand hier, im alten russischen Herzland um Moskau, der größte Aufschwung statt, denn hier war die Wiege der russischen Produktion: Lederwaren, Metallarbeiten, Ikonenmalerei, Tuch- und Leinenweberei, Seidendrucke auf Importware und neuerdings Baumwollerzeugung. Außerdem gab es die alten Eisenhütten bei Tula und die großen Waffenfabriken in Moskau. Der größte Markt für Eisen und andere Artikel befand sich nur einige Tagereisen entfernt im Osten. Vor allem aber entwickelte sich die Provinzhauptstadt Vladimir mit einem neuen Industrieort namens Ivanovo nördlich davon zu einem bedeutenden Zentrum der Textilbranche. Gemessen am westeuropäischen Standard war diese neue industrielle und kommerzielle Entwicklung noch keineswegs großartig, aber sie war immerhin ein Anfang.
»Wenn unsere Leibeigenen kleine Fabriken einrichten können, könnten wir große bauen«, drängte Tatjana ihren Mann, doch Bobrov zeigte kein Interesse. »Wer soll sie nach meinem Tod weiterführen?« fragte er. »Alexej? Er ist Soldat. Ilja? Er ist nicht fähig dazu.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist viel einfacher, die Leibeigenen das machen zu lassen. Wir haben unseren Vorteil, indem wir ihre Gewinne in Form von obrok-Z ählugen einstreichen.«
Tatjana hatte lange Zeit geglaubt, sie kenne Sawa genau; doch erst ein Jahr zuvor war sie sich der geheimen Leidenschaft bewußt geworden, die ihn vorwärtstrieb. Es kam heraus, als sie ihn eines Tages vorsichtig über sein persönliches Leben ausfragte. Die beiden Suvorins hatten neben ihrem Unternehmergeist eine weitere, höchst ausgefallene Eigenschaft gemeinsam: Sie lebten beide allein. Sawas Vater war Witwer, und er, Sawa, war mit dreiunddreißig Jahren immer noch ledig. Der Priester von Russka hatte oft mit ihm darüber gesprochen, doch Sawa verhielt sich immer merkwürdig ausweichend. Erst da bekannte er Tatjana gegenüber: »Ich heirate erst, wenn ich frei bin.«
»Wen wirst du denn heiraten?« fragte sie.
»Eine Kaufmannstochter«, war seine Antwort. »Aber kein Kaufmann läßt seine Tochter einen Leibeigenen heiraten, denn dann wird auch sie eine Leibeigene.«
Das also war es. Er wollte sich freikaufen. Mehrmals hatte er
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