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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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die Heilige Allianz mit ihrer mystischen Sprache war etwas zutiefst Russisches. Und als die hinterhältigen westlichen Diplomaten sie mit zynischem Lächeln unterzeichneten und die pragmatischen Briten ihre Unterschrift sogar verweigerten, wußte jeder Russe, daß der Westen korrupt war.
    St. Petersburg kam in Sergejs Blickfeld. Die SmolnyKlosterschule lag etwa drei Meilen östlich vom Winterpalais, am Ende des Nevabeckens, wo der Fluß eine Biegung nach Süden machte. Da Sergej Zeit hatte, nahm er einen angenehmen Weg am Ufer entlang, neben dem rosa Granit der Kais, an der großen Statue des Bronzenen Reiters, der alten Admiralität und dem Palais vorbei. Sergej tat einen glücklichen Atemzug. Es war schön, in Petersburg zu sein.
    Bald erreichte er die lange, geschlossene Mauer des SmolnyKlosters. Er hatte Olga genaue Anweisungen gegeben. Puschkin hatte ihm von dem kleinen Fenster berichtet, durch das man unbemerkt einsteigen konnte. Es lag etwa drei Meter hoch. Nachdem Sergej eine Stunde dort gewartet hatte, öffnete sich das Fensterchen endlich.
    Olga würde vor zwei Stunden nicht vermißt werden. Sie saßen nebeneinander in dem kleinen, weißgetünchten Raum; er hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt, und sie ließ ihren Kopf an seiner Brust ruhen, während sie leise miteinander sprachen. Er liebte sie. Von den übrigen Bobrovs war sie Alexej am ähnlichsten. Sie war schlank, doch keineswegs schwächlich mit ihren langen Gliedmaßen und den schmalen Händen. Ihre tiefblauen Augen blickten mitunter leicht verwundert in die Welt, aber sie konnten plötzlich strahlend und fröhlich sein. Olga war nicht glücklich, und das war kein Wunder. Die Erziehung in der Smolny-Schule war außergewöhnlich. Neben den typischen Fächern für junge Damen, wie Sticken, Tanzen und Kochen, lernten sie Sprachen, Geographie, Mathematik und Physik – eine fortschrittliche Erziehung, die selbst Besucher aus Amerika erstaunte. Doch die Disziplin war streng. »Wir singen vor jeder Mahlzeit Psalmen«, berichtete Olga betrübt. Dann fuhr sie kopfschüttelnd fort: »Es ist wie im Gefängnis.« Vom Herbst bis zum Frühlingsende, wenn das Schuljahr vorüber war, wurden die Mädchen in Smolny praktisch im Klosterbereich eingesperrt.
    Sergej umfaßte sie sanft, ihr langes braunes Haar fiel über seinen Arm. Er ließ sie fast eine Stunde lang sprechen, bis sie allmählich heiterer wurde und schließlich sogar lachte. Dann schmiegte sie sich an ihn und murmelte: »Genug von meinem langweiligen Leben, Serjoscha. Erzähle mir, was draußen vorgeht.« Es machte ihn stolz, daß sie zu ihm aufblickte. Er steckte voller Ideen, und so dauerte es nicht lange, bis er ihr ein hoffnungsvolles Zukunftsbild entwarf.
    »Der Zar wird ein neues Rußland schaffen«, erklärte er ihr. »Mit der Leibeigenschaft geht es zu Ende. Es wird eine neue Verfassung geben. Denke nur, was er schon in den baltischen Staaten und in Polen geschaffen hat. Das ist die Zukunft.« Zar Alexander hatte in Litauen und den übrigen baltischen Gebieten nicht nur die Leibeigenschaft aufgehoben, sondern auch dem neu hinzugekommenen Königreich Polen eine sehr liberale Verfassung zugebilligt, daneben ein gewähltes Repräsentantenhaus und Wahlrecht für große Teile der Bevölkerung. Die Zensur war nahezu abgeschafft.
    »Und das ist erst der Anfang«, versicherte Sergej seiner Schwester. »Wenn Rußland eine neue Verfassung bekommt, sind wir genau wie England oder sogar wie Amerika!«
    Der aufgeklärte Zar Alexander hatte tatsächlich den Rat englischer Diplomaten wie auch des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Jefferson, für eine neue Regierungsbildung eingeholt. Jahre davor hatte sein begabter Minister Speranskij einen Vorschlag unterbreitet, der Gewaltenteilung, ein gewähltes Parlament – eine duma – und sogar gewählte Richter vorsah. Zu diesem Zeitpunkt war auch ein offizielles Gremium mit der Ausarbeitung eines Plans beschäftigt, nach dem Rußland in zwölf Provinzen mit jeweils umfassender Autonomie aufgeteilt werden sollte.
    »Und welche Rolle wirst du in diesem wundervollen neuen Rußland spielen, Serjoscha?« fragte Olga.
    »Ich werde ein großer Schriftsteller«, behauptete er kühn. »Wie dein Freund Puschkin?«
    »Ich hoffe es. Weißt du eigentlich, daß es bis zur Zeit Katharinas kaum russische Literatur gab? Leute wie wir schrieben Dichtung oder Schauspiele auf französisch. Niemand verfaßte etwas Lesenswertes in modernem Russisch, bis Lomonossov kam, als unser

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