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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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befand sich auch ein Brief seiner kleinen Schwester, den man drei Tage zuvor hereingeschmuggelt hatte.
    Lieber Serjoscha,
    ich bin sehr unglücklich. Ich wünschte, ich könnte Dich
sehen.
Olga.
    Lächelnd las er ihn noch einmal. Das Leben an der angesehenen Smolny-Schule für Mädchen in St. Petersburg konnte mitunter hart sein. Es wunderte ihn nicht, daß seine lebhafte Schwester das erste Jahr dort gräßlich fand. Und obwohl das Risiko groß war, hatte er sich nach dem Empfang des Briefes nur eine Frage gestellt: Was würde Puschkin in diesem Fall tun? Puschkin war sein Idol. Sergej Bobrov fühlte sich wohl in Zarskoje Sjelo. Er faßte rasch auf, war intelligent und begabt. Er zeichnete gut, und seine Verse in Französisch oder Russisch waren besser als die seiner Klassenkameraden. Wenn ich es nur so gut könnte wie Puschkin, war sein heimlicher Wunsch. Puschkin, der schon als Junge kühne Verse verfaßte, der Karikaturen zeichnen konnte. Puschkin mit seiner gelockten Haarmähne, seinen sanften, dabei strahlenden Augen, seinen schwankenden Stimmungen. Er brachte sich oft in heikle Situationen und war ständig hinter den Frauen her. Es war sein letztes Jahr an dieser Schule.
    Ebendieser Puschkin hatte Sergej in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht. Es hatte mit einer Karikatur begonnen, die zwar skandalös, dabei jedoch komisch war; Puschkin hatte sie nach der endgültigen Niederlage Napoleons gezeichnet. Sie zeigte den engelgleichen Zaren Alexander auf seiner triumphalen Heimkehr; allerdings war er im Westen so dick geworden, daß die Triumphbögen eilends für ihn erweitert werden mußten. Einige Monate später wollte Sergej es seinem Idol nachtun. Seine Zielscheibe war jedoch der neue, außerordentlich fromme Erziehungsminister, einer aus der noblen Familie Golicyn. Die Karikatur zeigte den Minister, der die Mädchen an der Smolny-Schule im Hinblick auf ihre Moral aufs genaueste überprüfte. Obwohl nur wenige Angehörige des Lehrkörpers Sympathie für den autoritären Minister an den Tag legten, erhielt Sergej doch eine strenge Rüge für seine empörende Handlung: »Noch so etwas, Bobrov, und du wirst der Schule verwiesen.« Welche Probleme Sergej auch zu erwarten hatte, er würde seine Schwester nicht im Stich lassen.
    Es war noch dunkel, als Sergej sich frühmorgens aus dem Haus schlich. Ein Diener erwartete ihn mit einem Pferd eine halbe Meile von der Schule entfernt, und bald trabte er die leere Straße nach St. Petersburg entlang. Ein Stück weiter ging das Land in eine trostlose braune Öde über, die von grauen Scharten ungeschmolzenen Schnees durchzogen wurde. Die eisige Luft brannte auf der Haut. Einen Tag zuvor hatte er Olga eine Nachricht zukommen lassen, wo sie ihn erwarten solle. Er konnte ihr blasses Gesicht und ihre strahlenden Augen vor sich sehen und ihre Stimme hören: Ich wußte, du würdest kommen. Er freute sich, daß er eine so schöne Schwester hatte.
    Und welch ein Glück war es, als Russe in einer solchen Zeit zu leben! Wohl nie zuvor war die Welt so aufregend gewesen. Die große Bedrohung durch Napoleon war endlich, 1815, mit der Schlacht von Waterloo abgewendet worden. Nun hatten die Engländer den Mann, der Europa in seine Hand hatte bringen wollen, auf die Insel Helena verbannt, von der es kein Entkommen gab. Rußland war inzwischen stärker geworden als je zuvor in seiner Geschichte. Im Südosten, im Kaukasus, war das alte Königreich Georgien endlich dem russischen Reich einverleibt worden. Finnland im Norden war ebenfalls vom Zaren genommen worden. Jenseits des Meeres besaß Rußland nicht nur Alaska, sondern es hatte auch eine Festung in Kalifornien errichtet. Und als größte Trophäe hatte Rußland vom Wiener Kongreß, wo die vereinten Mächte eine Neugestaltung der europäischen Landkarte vornahmen, nahezu das gesamte, ehemals rivalisierende Polen zugesprochen bekommen. Rußland nahm einen neuen Platz in der Welt ein. Der Kongreß war vom russischen Zaren geleitet worden. Rußland hatte seine eigene, seine Sonderaufgabe proklamiert.
    »Machen wir diesen furchtbaren Kriegen und blutigen Revolutionen ein Ende«, hatte der Zar erklärt. »Die europäischen Mächte sollen sich in einer neuen, universellen Bruderschaft, die allein auf christliche Nächstenliebe gegründet ist, zusammenfinden.« Dies war die berühmte Heilige Allianz. Zugegeben: Derlei großartige Ideen hatte es schon vorher, in den Tagen des Römischen Reiches oder der mittelalterlichen Kirche gegeben, doch

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