Russka
Bedrohlichkeit: die Zigeuner! Einer dieser Teufel, wahrscheinlich das Mädchen, würde sich einschleichen und sie berauben – mit Hilfe des Wirtes, natürlich. Ilja setzte sich kerzengerade auf. »Suvorin, wach auf!« zischte er. Der alte Mann bewegte sich. »Komm her und öffne den Mantelsack.« Suvorin gehorchte. »Nimm das Geld heraus. Den Beutel und das Päckchen. Gut.« Im Beutel befanden sich Silberrubel, im Päckchen die Banknoten, die seit der Regierung Katharinas in Umlauf waren und von den Russen assignats genannt wurden. »Behalte sie, Suvorin. Dich werden sie sicher nicht ausrauben!« Der alte Mann zuckte schweigend die Achseln, und beide legten sich wieder zum Schlafen nieder. Ilja schlief auch gleich darauf ein.
Eine Stunde später weckte ihn etwas, vielleicht ein Geräusch oder das Mondlicht draußen vor dem Fenster. Und wieder fiel ihm das Geld ein. Was wäre, wenn alle Zigeuner plötzlich über den armen alten Suvorin herfielen und ihm das Geld entrissen? Nein, er mußte sie überlisten!
Mit einiger Schwierigkeit gelang es ihm, aufzustehen und Suvorin aus dem Schlaf zu schütteln. »Das Päckchen. Gib mir das Päckchen!« Wortlos suchte der Knecht in seinen Kleidern und zog es hervor. Ilja ließ sich schwer auf sein Bett fallen und überlegte, wo man es verstecken könnte. Er sah im Mantelsack zwischen seinen Habseligkeiten nach. Ach ja, das würde genügen. Auf dem Boden lag ein Gedichtband von Derzavin. Leider war der Rücken abgerissen, und Ilja hatte das Buch mit einer Schnur zusammengebunden. Er löste die Schnur, legte das Päckchen zwischen die Buchseiten und band sie wieder zusammen. Ich nehme doch nicht an, daß ein Zigeuner auf die Idee käme, in ein Buch zu schauen, dachte er, während er das Buch in den Mantelsack legte. Suvorin schnarchte bereits. »Ich muß Wache halten«, murmelte Ilja und fiel sogleich in einen tiefen Schlaf, von dem er erst spät am nächsten Morgen erwachte.
Als erstes stellte Ilja zu Haus in seinem Zimmer Derzavins Gedichtband ins Regal zurück. Er erinnerte sich nicht mehr, daß er schlaftrunken das Geld hineingesteckt hatte. Daher war er völlig verwirrt, daß die Hälfte des Geldes fehlte, als er und der alte Suvorin dem Vater die Abrechnungen vorlegten.
»Aber du hattest es doch, Suvorin«, sagte er kläglich zu dem alten Knecht.
»Sie haben die Banknoten in der Nacht an sich genommen, Herr«, war die Antwort.
»Kannst du das beschwören?« fragte Alexander Bobrov scharf.
»Das kann ich, Herr.«
Ilja konnte nur betreten dreinblicken. »Ich erinnere mich nur noch, daß ich dir alles gegeben habe«, sagte er.
Nachdem Tatjana persönlich alle Kleider und den Mantelsack durchsucht hatte und betroffen den Kopf schüttelte, traf Alexander Bobrov seine entsetzliche Entscheidung. »Du hast es gestohlen, Suvorin. Morgen werde ich beschließen, was mit dir geschehen soll.«
Irgendwie war Alexander Bobrov froh. Er hatte es bereut, daß er seiner Frau alle Macht über die Suvorins eingeräumt hatte. Nun, da es immerhin eine Möglichkeit gab, den alten Suvorin für einen Dieb zu halten, wollte er es unter allen Umständen glauben. »Entweder ist er ein Lügner oder dein Sohn«, brauste er auf, als Tatjana sich für den Leibeigenen einsetzte. Als sie ihn darauf hinwies, daß Ilja nach Suvorins Aussage betrunken gewesen war, bemerkte Bobrov lediglich: »Um so einfacher, ihn zu bestehlen.« Am folgenden Tag saß Alexander Bobrov zu Gericht. Er befahl Suvorin zu sich und trat, wie es sein Recht war, als Ankläger, Richter, Geschworener und Vollstrecker auf. Da er Suvorin des schweren Diebstahls für schuldig hielt, gab es ein hartes Urteil. »Ich schicke dich nach Sibirien«, verkündete er.
Alexander Bobrov mußte nicht hinzufügen, was mit diesem Urteil noch verbunden war: Alles, was die Familie Suvorin besaß, ging in seine Hände über. Das Geld, das der alte Suvorin für seine Freiheit bezahlt haben mochte, gehörte nun ohnehin Bobrov. Sein jetzt mittelloser Sohn würde für immer Leibeigener bleiben.
»Aber das kannst du nicht tun«, protestierte Tatjana. »Es ist gegen das Gesetz.« Laut Gesetz durfte ein Herr einen Leibeigenen über fünfundvierzig Jahren nicht nach Sibirien schicken. Suvorin war achtundvierzig. Doch das Gesetz war nicht allzu streng, wenn ein Landeigentümer damit zu tun hatte.
»Ich sende ihn zum Militärgouverneur von Vladimir«, sagte Alexander barsch. »Er ist ein Freund von mir.« Und obwohl Tatjana den ganzen Tag versuchte, seine
Weitere Kostenlose Bücher