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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Vater noch jung war, und der Poet Derzavin, der noch lebt. Du siehst also, daß wir am Anfang stehen«, rief er glücklich. »Du solltest einmal Puschkins Verse hören. Sie sind außerordentlich!« Olga lächelte. Sie freute sich über die Begeisterung ihres Bruders. »Du mußt fest daran arbeiten, Serjoscha«, meinte sie nachdenklich. »Natürlich.« Er schmunzelte. »Und was hast du vor, wenn du aus diesem Klostergefängnis herauskommst?« fragte er munter. »Ich heirate natürlich.«
    »Und wen?«
    »Einen attraktiven Gardeoffizier.«
    Zu seiner Überraschung fühlte Sergej sich traurig bei diesem Gedanken. Hätte er doch dieser Mann sein können! Er mußte sich wieder auf den Heimweg machen. Es war bereits Nachmittag, als er das Pferd zurückbrachte und die letzte halbe Meile durch den kalten Morast zu Fuß bis zur Schule ging. Es war niemand zu sehen. Heimlich schlich er sich in sein Zimmer, wo seine Freunde ihn erwarten sollten. Er öffnete die Tür und blieb wie angewurzelt stehen.
    Der hohe Raum war leer bis auf eine schmale Gestalt in Uniform und Reitstiefeln, die im grauen Licht stand, das durchs Fenster hereinfiel. »Alexej! Was machst du denn hier?«
    »Wo warst du?« Alexejs Stimme war eiskalt. »Seit zwei Stunden sucht man dich in der ganzen Schule.«
    »Tut mir leid.« Sergej ließ den Kopf hängen. »Das hilft nichts«, erwiderte Alexej zornig. »Ich wollte dich besuchen, weil ich geschäftlich hier zu tun hatte. Während ich auf dich wartete, habe ich allerhand über dich erfahren. Du hast Karikaturen vom Minister gezeichnet, und möglicherweise wirst du von der Schule gewiesen. Ich nehme an, du weißt das.«
    »Ja.«
    »Ich habe sie überredet, dich hierzubehalten. Man sollte dich durchprügeln. Ich bot ihnen an, das selbst zu übernehmen – für die Familienehre.«
    Was nur veranlaßte Sergej in diesem Augenblick, etwas zu sagen, was er nicht einmal dachte? Ärgerte ihn Alexejs belehrender Ton? Oder war es der plötzliche Wunsch zurückzuschlagen, weil der von ihm geliebte und verehrte Bruder sich gegen ihn wandte? Es platzte einfach aus ihm heraus: »Zum Teufel mit der Familienehre!« Alexej blieb der Atem weg. Er hatte nie eine solche Schule besucht; er war so bald wie möglich zu seinem Regiment gegangen. Dienst für den Zaren, Familienehre – das waren seine Leitsterne. Er zischte gehässig: »Das mag ja sein. Aber mir und der übrigen Familie bedeutet sie sehr viel. Und würdest du dich vielleicht freundlicherweise daran erinnern, daß du, obwohl du keiner von uns bist, trotzdem unseren Namen trägst? Wir erwarten, daß du dich entsprechend benimmst. Verstehst du?«
    »Was meinst du – keiner von uns?«
    »Ich meine, du kleiner braunäugiger Eindringling, daß du, zur Schande deiner Eltern, kein Bobrov bist. Da uns Ehre aber etwas bedeutet, behandeln wir dich so, als seist du einer. Als unsere Mutter einmal eine Zeitlang einsam war, beging sie in Moskau eine Unbesonnenheit. Das ist lange her. Es war auch schnell vorüber. Du gehörst nicht zu uns, aber wir tun so, als wäre es so. Und da wir dir unseren Namen geliehen haben, wirst du ihn in Ehren halten.«
    Nach einer Weile fuhr er fort: »Wenn du je zu irgend jemandem ein Wort darüber verlauten läßt, bringe ich dich um.« Nachdem er seinen Bruder so unbarmherzig verletzt hatte, ging Alexej davon.
    Als Sergej später an diesem Abend seinen Brief nach Hause schrieb, den er durch einen Tränenschleier hindurch kaum sah, fügte er hinzu:
    Ich bin sehr gern in dieser Schule, meine lieben Eltern. Heute hat mich Alexej besucht, dem es auch gutgeht, und auch das machte mich glücklich. Ganz liebe Grüße an Arina und ihre kleine Nichte.
    Er hatte seine Mutter immer für vollkommen gehalten und auch angenommen, daß sein Vater ihn liebte. Wenn er gar kein Bobrov, wenn er unerwünscht war – welche Rolle spielte es dann, was er aus seinem Leben machte?
    1822
    Tatjana blickte auf dem kleinen Marktplatz umher. Zum erstenmal nach einer Reihe von trüben Tagen war der Morgenhimmel klar, und überall in Russka glitzerte der Januarschnee. Soeben stieg Sawa, der Leibeigene, in seinen Schlitten. Er wollte nach Moskau zurückfahren. Nun verneigte er sich tief vor ihr, und sie lächelte ihm zu. Sie hatten ein Geheimnis miteinander. Wenn Russka auch an diesem Morgen ruhig dalag, gab es doch viele Anzeichen, daß insgesamt mehr Geschäftigkeit herrschte als früher. Innerhalb der Stadtmauern gab es zwei breite Straßen mit Holzhäusern beiderseits des

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