Russka
Meinung zu ändern, hatte sie keinen Erfolg.
Insgeheim triumphierte Bobrov. Er hatte diese schlauen Leibeigenen hinausbefördert und den Wert seines eigenen Besitzes beträchtlich gesteigert.
Es gab zwar Momente, in denen Suvorin ihm auch leid tat. Doch auf diese plötzlichen und willkürlichen Wendungen des Schicksals muß jedermann gefaßt sein, beruhigte er sich selber. Schließlich war es ihm auch so ergangen, als Katharina ihn ins Gefängnis hatte werfen lassen.
Am nächsten Tag wurde Suvorin in Ketten nach Vladimir gebracht, von wo aus regelmäßig kleine Gruppen auf den langen, langen Weg nach Sibirien befördert wurden. An ebendiesem Tag schrieb Tatjana einen Brief.
Sawa nahm den kleinen, nachgedunkelten Gegenstand in die Hand. Endlich einmal lächelte er. Er hatte sich diese Kostbarkeit seit langem gewünscht, und nun endlich hatte er das Gefühl, sie sich leisten zu können. Sie waren in Sicherheit. Noch zwei Wochen in Moskau, und er würde genügend Geld für die eigene und seines Vaters Freiheit haben.
»Sie ist schön«, sagte der graubärtige Verkäufer. »Sehr alt. Ich schätze, sie stammt noch aus der Zeit vor Ivan dem Schrecklichen.« Sawa nickte. Er wußte es.
Es war eine kleine Ikone, nichts Aufsehenerregendes. Es gab viele hier im Laden, die größer und farbiger waren. Wie auf vielen alten Ikonen war auch bei dieser die Farbe mit den Jahren nachgedunkelt, sie war übermalt und noch dunkler geworden. Warum also war sie Sawa so wertvoll?
Er wußte, daß die Kunst der Ikone nur dem geübten Auge sichtbar wurde, und selbst dann konnte sie nur vom Geistigen her erfaßt werden. Eine Ikone war nicht einfach ein Gemälde, sie war ein Gebet. Von frommen Händen gemalt und überarbeitet, sollten diese Ikonen von jenen verehrt werden, die es verstanden. Wie Sawa. Er schob dem alten Mann das Geld über den Tisch. Jetzt war es Zeit zum Aufbruch. Doch es war, wie immer, nicht so einfach. Der alte Kerl hatte sich zwischen Sawa und die Tür geschoben. Zwei junge Männer hatten sich zu ihm gesellt. »Man würde Sie herzlich aufnehmen, das wissen Sie«, sagte der Alte ihm zum wiederholten Mal, »wenn Sie sich uns anschließen wollen.«
»Vielen Dank, nein«, antwortete Sawa wie schon so oft. »Wir können Ihnen helfen, Ihre Freiheit zu erkaufen«, meinte der eine der jungen Männer. Doch Sawa wollte nichts mit ihnen zu tun haben.
Es waren Altgläubige. Mit diesem Namen bezeichnete man zu jener Zeit die Sektierer, die ehemaligen raskolniki, die sich anderthalb Jahrhunderte davor von der Kirche abgespalten hatten. Seit die Kirche in Russka niedergebrannt worden war, hatte es dort keine mehr gegeben, und die meisten waren während der Zeit der Verfolgung in entfernter liegende Provinzen geflohen. Während der Regierungszeit Katharinas waren sie allerdings offiziell anerkannt worden, und nun gab es eine ansehnliche Gemeinde in Moskau. Die Sekte der Theodosianer war reich und mächtig. Ihren Sitz hatten sie bei ihrem Friedhof in dem ehemaligen Dorf Preobrazenskoje, jetzt ein Vorort der Stadt. Sie hatten zahlreiche Gemeinden innerhalb und außerhalb Moskaus. Sie waren an Industrie- und Handelsbetrieben beteiligt, und aufgrund des durch Katharina zugesagten Monopols brachten die Theodosianer die besten Ikonen auf den Markt. Das Erstaunlichste an der Sekte war allerdings ihre merkwürdige wirtschaftliche Organisation. Im Grunde bildeten die Theodosianer Genossenschaften. Sektenmitglieder konnten aus den Finanzmitteln der Sekte niedrigverzinsliche Darlehen zum Aufbau eines Geschäfts erhalten. In all ihren Unternehmen, zu denen große Textilfabriken gehörten, wurde durch die Gemeinde für die Armen gesorgt.
Seit Sawa die Theodosianer in Moskau kennengelernt hatte, drängten sie ihn, der Sekte beizutreten. Sie hätten ihn sicher finanziell unterstützt. Er aber dachte: nein, ich will frei sein. Er verließ den Laden der Theodosianer und machte sich auf den Weg zu seiner bescheidenen Unterkunft in Moskau. Es war ein hübsches Holzhaus in einer staubigen Straße. An der Tür war ein kleines Schild mit einem Namen darauf – es war nicht sein Name, sondern der seines Herrn: Bobrov. Bald wird darauf der Name Suvorin stehen. Er trat wohlgemut ein.
Fünf Minuten später brachte ein Bote einen Brief von Tatjana. Sie berichtete ihm alles. Daß sein Vater sich in Ketten auf dem Weg nach Sibirien befinde; daß er all seine Habe verloren habe; daß Bobrov einen Mann schicke, der ihn, Sawa, nach Russka zurückbringen solle,
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