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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Arbeit, jeder gehorcht, und für jeden wird gesorgt.« Dies also war General Araktschejevs Militärkolonie. Sie bedeckte ein weites Areal in der Provinz, wo die Armee sich niedergelassen hatte und die ansässigen Bauern zwangsweise zu Reservisten und militarisierten Staatsarbeitern wurden. Weitere Kolonien entstanden bereits unten im Süden, in der Ukraine. Doch warum hatte der aufgeklärte Zar Alexander seinen Gefolgsmann dazu ermutigt, diese totalitären Distrikte zu schaffen? War es nur der Einfachheit halber? Auf alle Fälle war es eine billige Art, ein stehendes Heer in Friedenszeiten zu beschäftigen und zu verpflegen. Oder machte der Zar dieses Experiment – wie einige vermuteten –, um eines Tages den Zugriff eines konservativen Adels auf Armee und Landbesitz zu lockern, vielleicht schon auf diese Weise? Welche Erklärung der Sache auch am nächsten kommen mochte: Jedenfalls wäre Peter der Große von den Militärkolonien mit ihrer straffen Disziplin, ihrer erschreckenden Gleichförmigkeit und ihrer absoluten Ausrichtung auf den Staat begeistert gewesen. Für Alexej Bobrov war die Kolonie eine Entdeckung. Araktschejevs Schöpfung war das Vollkommenste, das er je gesehen hatte. Wie weit entfernt war es doch von dem schäbigen Durcheinander Russkas oder von tausend ähnlichen Ansiedlungen! Alexej sah nur, daß die Menschen hier fleißig und wohlgenährt waren – er sah, was er zu sehen wünschte.
    Von diesem Tag an setzte sich in seinem Kopf ein einziger, unabweichlicher Leitsatz fest: Dem Zaren mußte in einer perfekten Ordnung gedient werden. Aus diesem Prinzip leitete sich ein nächstes ab: Was der Ordnung förderlich ist, muß auch recht sein. Im Sommer des folgenden Jahres, als Ilja bereits mit einem Freund der Familie seine Auslandsreise angetreten hatte, nahm Alexej eines Tages während eines Besuches in Russka zufällig den zerrissenen Band mit Derzavins Gedichten aus dem Regal. Als er die Banknoten darin entdeckte, war ihm sofort klar, was geschehen war. Man konnte nichts mehr unternehmen. Suvorin war in Sibirien, sein Sohn war spurlos verschwunden. Und Alexander Bobrov kränkelte.
    Außerdem wäre es für die Familie und für ihre Gesellschaftsklasse ungut, jetzt die Verurteilung Suvorins als Fehler einzugestehen. Überdies war es unvereinbar mit der Ordnung. So brachte er das Geld an einen sicheren Platz und schwieg.
    1825
    Wenn ein Russe nach dem Datum des wichtigsten Ereignisses vor dem 20. Jahrhundert gefragt wird, antwortet er höchstwahrscheinlich: Dezember 1825. In diesem Monat fand der erste Versuch einer Revolution statt.
    Die Dekabristen-Verschwörung – so genannt nach dem russischen Wort für Dezember – ist wegen ihres ungewöhnlichen Charakters wohl einmalig in der Geschichte der Menschheit. Sie war der amateurhafte Versuch einer Handvoll Adliger, aus durchaus ehrenhaften Motiven dem Volk die Freiheit zu erobern. Während der Regierungszeit Katharinas faßten die Ideen der Aufklärung erstmals Fuß in russischen Adelskreisen. Trotz der Erschütterung durch die Französische Revolution und der Angst vor Napoleon hatte der Reformgedanke in Rußland sich unter dem aufgeklärten Zaren Alexander weiter verbreitet. Und es gab in der Tat genügend zu reformieren: ein Rechtssystem, das noch aus dem Mittelalter hätte stammen können, die Einrichtung der Leibeigenschaft, eine Regierung, die trotz der nominellen Existenz eines Gerichtssenats in Wirklichkeit eine primitive Autokratie war.
    Was also konnte getan werden? Die von Katharina zusammengerufenen Vertreter des Adels, der Kaufmannschaft und der Leibeigenen hatten untereinander nur gestritten. Es gab keine Institutionen wie im Westen, auf die man hätte aufbauen können. Zar Alexander sah sich vor den gleichen Problemen: großartige Programme wurden erstellt, doch alle Versuche, sie zu realisieren, scheiterten an dem in Rußland üblichen Widerstand und an Unfähigkeit. Der Adel wollte nichts von der Befreiung seiner Bauern wissen. Die Regierung sah, daß sie praktisch nur versuchen konnte, die Ordnung aufrechtzuerhalten und Experimente wie die Militärkolonien zu wagen, neue Wege zu suchen, die das Land aus seiner althergebrachten sozialen Stagnation herausführen könnten. Es war demnach nicht weiter verwunderlich, daß ein paar liberale junge Adlige im Lauf der Jahre das Gefühl hatten, von ihrem engelgleichen Zaren betrogen worden zu sein. Ihr geistiger Horizont hatte sich durch die Aufklärung erweitert; der bedeutende patriotische

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