Russka
Sieg über Napoleon und die Verbindung einiger Adliger mit dem mystischen Freimaurertum hatte sie mit romantischer Inbrunst für ihr Vaterland erfüllt. Während die Heilige Allianz Zar Alexanders sie in ihrem Blick über die Grenzen beflügeln mochte, wurde Rußland im Innern zunehmend beherrscht von dem streng autoritären Regierungssystem des Generals Araktschejev. So kam es, daß sich in den Jahren nach dem Wiener Kongreß eine lockere Gruppe zusammentat, die entschlossen war, Veränderungen, notfalls durch eine Revolution, herbeizuführen. Sie hatten kein genau vorgefaßtes Ziel. Einige wünschten eine konstitutionelle Monarchie nach englischem Vorbild; andere, im Süden, wollten unter der Führung des hitzigen Offiziers Pestel den Zaren töten und eine Republik ausrufen. In aller Heimlichkeit wurde geplant, wurden Komplotte geschmiedet, wurde gehofft – doch man unternahm nichts.
Da verstarb Ende 1825 Zar Alexander I. Ein plötzliches Fieber raffte ihn dahin. Er hinterließ keinen Sohn. Nach der Thronfolgeregel wäre die Herrschaft an seinen Bruder Konstantin gefallen. Doch dieser Enkel Katharinas, von dem sie gehofft hatte, er werde einst in Konstantinopel herrschen, hatte bereits 1822 auf den Thron verzichtet, und Zar Alexander hatte in einem Manifest Nikolaus, den nächsten Bruder, zum Thronfolger bestimmt. Von diesem Manifest war der Öffentlichkeit allerdings nichts bekannt. Im Dezember 1825 sollte nun jenem rechtschaffenen, aber völlig phantasielosen Burschen der Treueeid abgelegt werden. Zu diesem Anlaß beschlossen die Verschwörer, einen Coup zu landen. Sie wollten eine Konspiration zugunsten Konstantins anzetteln, indem sie die Truppen zu überreden versuchten, den Eid auf Nikolaus nicht abzulegen. Es gab zwei Gruppen von Verschwörern: eine in St. Petersburg, die andere, unter Pestel, in der Ukraine. Sie hatten kaum Verbindung miteinander, und außerdem verfolgten sie unterschiedliche Ziele.
Als am Morgen des 14. Dezember die Armee und der Senat den Eid leisten sollten, führte eine Gruppe von Offizieren an die dreitausend ungeordnete Soldaten auf den Senatsplatz. Als sie eintrafen, hatten die Senatoren ihren Eid bereits geschworen. Nikolaus, der Blutvergießen vermeiden wollte, ließ sie umzingeln, doch als sie sich in der Dämmerung immer noch nicht von der Stelle gerührt hatten, wurden Kartätschen abgefeuert, einige Dutzend Männer starben. Damit war der revolutionäre Spuk vorüber. Bald darauf wurde Pestels Rebellion im Süden im Keim erstickt. Fünf Rädelsführer wurden hingerichtet.
Das war die Dekabristen-Verschwörung – aristokratisch, amateurhaft, absurd. Doch trotz ihrer heroischen Torheit – oder vielleicht gerade deshalb – wurden jene Adligen von den nach ihnen kommenden Revolutionären als Ansporn betrachtet, ähnlich den frühchristlichen Märtyrern.
Für den neuen Zaren Nikolaus war die Revolte ein schwerer Schlag. Er glaubte an die Pflicht des Dienens, und er erwartete dies auch von seinen Adligen. Welchen Grund konnten diese Burschen haben, die heilige Verpflichtung zu verraten? Er ließ alle Geständnisse kopieren und in einem Buch zusammenfassen, das ständig auf seinem Schreibtisch lag und sorgfältig von ihm gelesen wurde. Daraus lernte er, daß Rußland Gesetze, Freiheit und eine Verfassung brauchte. Er war nicht sonderlich klug, aber er dachte über diese Dinge nach. Zuerst einmal mußte Ordnung geschaffen werden.
1827
Der Sommer begann, und Tatjana war froh, denn plötzlich war das Haus voll von fröhlichen Stimmen nach so viel Stille und Traurigkeit. Meine Kinder sind nach Haus gekommen, dachte sie lächelnd. In den eineinhalb Jahren seit Alexander Bobrovs Tod war sie oft einsam gewesen; nur Ilja hatte ihr Gesellschaft geleistet. Während dieser Zeit war noch zweimal Unglück über die Familie gekommen. Ein Jahr zuvor hatte Olga ihren lieben Mann im Krieg verloren; er ließ sie mit einem Kind und einer neuen Schwangerschaft zurück. Wenigstens war sie gut versorgt, denn der Besitz in Smolensk war groß. Und im letzten Herbst hatte Alexej seine Frau durch eine CholeraEpidemie verloren, gerade als er mit seinem Regiment ausrücken mußte. An einem Wintermorgen brachte ein Schlitten seinen fünfjährigen Sohn Michail nach Bobrovo, klein, frierend und unglücklich, damit die Großmutter ihn in ihre Obhut nähme. »Nur bis Alexej wieder heiratet«, sagte sie zu Ilja. Die alte Arina wurde wieder als Kinderfrau eingestellt, und ihre Nichte sollte ihr dabei zur Hand
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