Russka
wo er wieder als armer Leibeigener leben würde. Der Brief endete mit einem großzügigen Angebot und einem sehr eindeutigen Hinweis.
Was Du auch zu tun gedenkst, das Geld, das ich Dir geliehen habe, gehört Dir. Ich will es nicht zurückhaben, und ich bin nur froh, wenn ich weiß, daß es Dir gutgeht.
Die Frau seines Grundbesitzers sagte ihm, er solle weglaufen und das Geld behalten. Er wußte, daß das für ein Mitglied des Adels eine erstaunliche Geste einem Leibeigenen gegenüber war. Doch er seufzte nur. Wenn ich das Geld nehme und erwischt werde, heißt es doch nur, ich hätte es gestohlen. Ihr Brief hilft mir gar nichts. Sorgfältig wickelte er die Banknoten in Höhe ihres Darlehens ein. Er würde die Summe einem vertrauenswürdigen Händler geben, der sie zu Tatjana bringen sollte. Dann überlegte er, was weiter zu tun sei.
Er würde nicht zurückgehen. Nicht zu den Bobrovs, nach dem, was sie ihm angetan hatten. Lieber wollte er sterben. Er würde verschwinden. Da gab es viele Möglichkeiten. Männer zogen die Lastkähne die Wolga hinunter. Zermürbende Arbeit. Tausende starben dabei jedes Jahr. Aber auf diese Weise konnte man entkommen, weit nach Süden und Osten, ohne daß viele Fragen gestellt wurden. Oder vielleicht gleich zu den fernen sibirischen Kolonien, wo sie immer Leute brauchten. Vielleicht würde er sogar versuchen, seinen Vater zu finden. Zum Glück bin ich stark, dachte er. Hatte er sein Duell mit den Bobrovs nun doch noch verloren? Selbst wenn das so war, würde er nicht aufgeben, niemals!
An dem Tag, an dem sein Vater den alten Suvorin von Russka fortschickte, machte Alexej Bobrov, weit weg in der nordöstlichen Provinz Novgorod, eine Entdeckung, die ihn beeindruckte. Es war ein klarer Tag, und ein scharfer Wind blies. Drei junge Offiziere ritten mit ihm. »Auf jeden Fall werde ich alles schlecht finden, was dieser Einfaltspinsel sich ausgedacht hat«, bemerkte einer von ihnen spöttisch. Alexej dagegen war, als er das Tor passiert hatte und die ordentliche Straße entlangritt, voller Neugier. Der Einfaltspinsel war nämlich der berühmte General Araktschejev.
Zu den seltsamen Fügungen während der Regierungszeit des aufgeklärten, um nicht zu sagen poetischen Zaren Alexander gehörte die Wahl General Araktschejevs zu seinem engsten Berater. Vielleicht hatten sich dabei Gegensätze angezogen. Der General war halbgebildet und hatte ein launisches Temperament. Alexej bewunderte ihn wegen seiner glänzenden Führung der Artillerie im großen Feldzug von 1812. »Er ist vielleicht ein rauher Bursche«, sagte er seinen Kameraden gegenüber, »aber er ist ein treuer Anhänger des Zaren, und er bringt etwas zuwege.« Hier, in der Provinz Novgorod, hatte der General auf Befehl des Zaren eines der größten sozialen Experimente der russischen Geschichte in Angriff genommen.
Gleich beim Betreten des riesigen Areals fiel Alexej die seltsame Atmosphäre auf. Das war keinesfalls ein russisches Dorf. Die eher zufällige Ansammlung von bäuerlichen isbas von ehemals war vollkommen niedergerissen worden; an ihrer Stelle standen Reihen ordentlicher Hütten. Sie sahen alle gleich aus: blau bemalt mit einer roten Veranda und einem weißen Zaun. »Mein Gott«, murmelte Alexej, »die sehen ja aus wie Baracken.« Dann sah er die Kinder. Die kleinen Jungen waren zum Teil nicht älter als sechs Jahre. Sie zogen unter der Aufsicht eines Sergeanten singend und im Gleichschritt marschierend an ihm vorüber. Sie trugen Uniformen. Alexej stellte fest, daß alle Menschen gleich gekleidet waren und keiner der Bauern einen Bart trug.
»Ja, Sie finden hier alles in bester Ordnung vor«, erklärte der junge Offizier, der sie herumführte. »Wir haben die Uniformen für die Kinder in drei Größen. Sie tragen sie die ganze Zeit. Eiserne Disziplin! Wenn es Zeit ist für die Feldarbeit, wird die Trommel gerührt.« Er grinste. »Sie können eine Wiese fast im Gleichschritt mähen.«
»Wie halten Sie die Disziplin aufrecht?« fragte ein Offizier. »Der Stock genügt. Ein kleiner Ausrutscher, und sie kriegen Schläge. Der Stock wird übrigens in Salz gesteckt«, fügte er hinzu. Alexej fiel noch etwas auf. Anders als in einem üblichen Ort gab es anscheinend genauso viele Männer wie Frauen aller Altersklassen. »Jeder muß heiraten«, erklärte ihr Führer, »ob er will oder nicht. Es gibt hier keine Witwen oder alten Jungfern; wir versorgen sie mit einem Mann. Das System funktioniert perfekt, sehen Sie das? Jeder hat
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