Russka
Nikolaus?«
»O nein. Der letzte Zar. Alexander. Der Engel.« Es war eines dieser seltsamen Gerüchte der russischen Geschichte, daß Zar Alexander I. im Jahre 1825 nicht gestorben sei, sondern als Mönch, meist unter dem Namen Fedor Kuzmich, umherwandere. Tatjana lächelte traurig dazu, aber es ging gegen ihre praktisch ausgerichtete Natur. Da kam ihr jedoch eine neue Idee. Sie ließ Sawa Suvorin kommen. »Einen Zaren brauchen wir hier nicht unbedingt, aber neues Saatgut für Wechselanbau«, meinte sie.
»Ich möchte, daß du dich erkundigst und herausfindest, was es da gibt.«
Drei Monate später erstattete Suvorin mit einem leichten Schmunzeln Bericht. Er hatte ein Säckchen bei sich, aus dem er etwas Schmutziges, Graubraunes nahm. »Hier haben Sie die Antwort. Die deutschen Siedler bauen diese Dinger seit langem im Süden an, aber wir hier oben haben sie nicht.«
»Was ist das?« fragte sie. »Eine Kartoffel«, antwortete er.
So baute man eines der wichtigsten Nahrungsmittel der kommenden Zeit, ehe es auf den Privatgütern der Provinz eingeführt wurde, zuerst in Russka an. Obwohl Sawa Suvorin die Hungersnot bedauerte, fand er doch ein grimmiges Vergnügen an den Mißernten von 1839 und 1840. »Zwei Jahre lang hat er nun kein Einkommen gehabt«, sagte er zu Frau und Sohn. »Dieser verflixte Alexej Bobrov kann nicht mehr viel länger durchhalten. Es ist Zeit, ihm ein Angebot zu machen, das er nicht ablehnen kann.« Im folgenden Frühjahr bat er Tatjana um einen Paß für einen Moskaubesuch. Im Mai 1844 trat Sawa Suvorin vor Alexej Bobrov hin und machte sein erstaunliches Angebot. »Fünfzigtausend Rubel.« Selbst Alexej war wie vom Donner gerührt: Das war ein Vermögen! »Ich komme morgen zurück, Herr, damit Sie es sich überlegen können.« Damit zog Sawa sich diskret zurück. Sawas Plan war höchst ehrgeizig. Er hatte mit den Theodosianern eine gigantische Anleihe ausgehandelt, zinsfrei für die Dauer von fünf Jahren. Damit konnte er sich seine Freiheit erkaufen und mit einer einzigen großen Investition das Unternehmen Suvorin für immer in seinen Besitz bringen.
Zu jener Zeit gab es in Rußland kein besser florierendes Geschäft als die Baumwollproduktion aus importiertem Rohmaterial. Sawa plante nicht nur die Umstellung seiner Holzfabrik auf eine Baumwollfabrik, sondern auch die Steigerung der Produktion durch den Kauf einer großen, dampf betriebenen Feinspinnmaschine aus England. »Ich mache das aber erst, wenn ich frei bin«, erklärte er seiner Familie.
Fünfzigtausend Rubel. Dieses außergewöhnliche Angebot mußte sich der Landbesitzer wohl überlegen. Alexej Bobrov war eine eindrucksvolle Erscheinung, wenn er auch älter aussah als seine einundfünfzig Jahre. Sein graues Haar war kurz geschoren, die Wangen waren mit dem Alter fülliger geworden, was sein ehemals scharf geschnittenes Gesicht veränderte. Auf seiner Uniform trug er zahlreiche Orden und Ehrenzeichen. Da er zum zweitenmal verwitwet war und infolge einer alten Kriegsverletzung leicht hinkte, hatte er in diesem Jahr seinen ehrenvollen Abschied genommen und lebte nun ständig auf seinem Besitz in Bobrovo. Als er seiner Mutter und dem Bruder Ilja von dem Angebot erzählte, waren sie beide der Meinung, er solle es annehmen. »Damit könntest du alle Schulden aus den Mißernten tilgen, die nötigen Verbesserungen auf dem Gut vornehmen und eine ganze Menge zurücklegen«, überlegte Tatjana. Für mindestens eine Generation wären die Bobrovs aus allen Schwierigkeiten heraus. Iljas Antwort war ein wenig anders. Wenn er sich auch nie ganz klar über seinen Fehler mit dem gestohlenen Geld geworden war, fühlte er sich doch schuldig wegen der Art und Weise, wie seine Familie die Suvorins behandelte. Abgesehen davon aber gab es noch eine Überlegung: »Entschuldige, mein lieber Bruder, wenn ich das so ausdrücke, aber tatsächlich hält doch jeder zivilisierte Mensch in Rußland die Leibeigenschaft für abscheulich. Selbst unser Zar, den die meisten Menschen als reaktionär ansehen, denkt offenbar daran, die Leibeigenschaft abzuschaffen. In jeder Saison kommt ein neues Gerücht aus der Hauptstadt, daß etwas unternommen werde. Was wird Suvorin dir anbieten, wenn er glaubt, daß er in ein bis zwei Jahren seine Freiheit ohnehin erhält?«
Alexej ließ sich davon nicht überzeugen. Iljas Argument wies er auf der Stelle von sich. »Seit ich lebe, wird schon von der Befreiung der Leibeigenen gesprochen«, sagte er, »und doch ist nie etwas
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