Russka
Vermeidung von Streitereien zu eigen gemacht: Über gewisse Themen wie das Militär oder Sawa Suvorin wurde nie gesprochen. Ilja strahlte. Dieser hochgebildete Mann konnte wenige seiner Gedanken mit Tatjana, geschweige denn mit Alexej teilen. Seit Sergejs Anwesenheit blühte er auf, und vor dem Essen hörte Tatjana ihn murmeln: »Ach, Serjoscha! Wir haben so vieles miteinander zu bereden.«
Die einzige undurchschaubare Person am Tisch war Sergejs junge Frau. Was sollte man nur von ihr halten? Er hatte Nadja drei Jahre zuvor geheiratet. Sie kam aus guter Familie, war die Tochter eines Generals, und wegen ihres blonden Haares und ihrer hübschen Erscheinung galt sie eine Zeitlang in der Gesellschaft als ätherische Schönheit. Um ebendiese Zeit war auch Sergej kurzfristig im Gespräch. Anscheinend hatten das Mädchen und der Lebemann sich auf Grund ihres saisonbedingten Rufs ineinander verliebt. »Blond ist sie tatsächlich«, bemerkte Ilja nach ihrer ersten Begegnung, »aber etwas Ätherisches kann ich nicht an ihr entdecken.«
Seit der Hochzeit hatte Sergejs Familie kaum etwas von der jungen Frau zu sehen bekommen. Das erste Kind starb schon nach einer Woche, und von einer neuen Schwangerschaft war keine Rede. So saß sie still da, wirkte leicht gelangweilt und unterhielt sich vorwiegend mit Alexej, bei dem sie sich anscheinend wohler fühlte als bei Ilja.
Nach der Mahlzeit zogen Tatjana und Nadja sich zurück, während die Herren sich auf die Veranda begaben, wo sie ihre Pfeifen rauchten und sich unterhielten. Selbst Alexej war in bester Stimmung. Nachdem Sergej den neuesten Klatsch aus der Hauptstadt zum besten gegeben hatte, wandte Alexej sich an Ilja und erkundigte sich: »Nun, Bruder, wo Sergej jetzt hier ist, willst du uns endlich erklären, was zum Teufel dich die letzten Wochen umgetrieben hat?«
Und da gab Ilja sein Geheimnis preis. »Es ist tatsächlich so, daß ich Rußland verlasse«, antwortete er lächelnd. »Ich gehe ins Ausland, um ein Buch zu schreiben, und zwar mit dem Titel ›Rußland und der Westen‹. Es wird mein Lebenswerk.«
Vielleicht war es ein spontaner Einfall gewesen, vielleicht der Höhepunkt jahrelanger Studien. Vielleicht aber war es auch der Anblick von Alexejs Orden, der Ilja plötzlich klarmachte, daß der Bruder sich bereits mit dem Beweis eines lebenslangen Erfolgs in den Ruhestand begeben hatte, während er, Ilja, mit seinen fünfundfünfzig Jahren auf dieser Welt absolut nichts vorzuweisen hatte. Er hatte sein Leben lang studiert; er war ein fortschrittlicher Europäer; was also lag näher, als ein Buch zu schreiben, das sein geliebtes Rußland auf sein Schicksal hinführte, so daß zukünftige Generationen rückblickend sagen würden: Ilja Bobrov hat uns den Weg gewiesen.
Nun umriß er mit sichtlichem Stolz sein Projekt. »Meine These ist ganz einfach. Rußland war in seiner gesamten Geschichte nicht in der Lage, sich selbst zu regieren. Von außen wurden Ordnung und Kultur in unser Land gebracht. In den Tagen des Goldenen Kiev wurden wir von Nordländern regiert, und die Griechen gaben uns unsere Religion. Jahrhundertelang lebten wir in der Dämmerung des Tatarenjochs; als wir dann erwachten – wer führte uns in die moderne Welt? Nun, es waren englische, holländische und deutsche Wissenschaftler und Techniker, die Peter der Große ins Land holte. Wer gab uns unsere heutige Kultur? Katharina die Große, die uns die Aufklärung aus Frankreich brachte. Und welche Philosophen inspirieren dich und mich, Sergej? Nun, die großen deutschen Denker.
Es muß so sein, denn Rußland selbst hat so wenig anzubieten, und was wir haben, gehört ins Mittelalter. Seht euch nur unsere Gesetzgebung an! Vor ein paar Jahren hat unser edler Speranskij endlich die große Kodifizierung der russischen Gesetze beendet, und was ist dabei herausgekommen? Eine Rechtsauffassung, die den westlichen Ländern schon vor tausend Jahren barbarisch erschienen wäre. Das Individuum hat keine Rechte; es gibt keine unabhängigen Richter, kein Verfahren mit einer Jury. Alles geschieht nach der Laune des Zaren. Und alldem unterwerfen wir Russen uns freudigen Herzens wie orientalische Sklaven. Kein Wunder, daß ein Fortschritt unmöglich ist.
In England, Frankreich und Deutschland werde ich Material für den Entwurf eines neuen Rußland sammeln. Ein Rußland nach dem Vorbild des Westens. Eine vollständige Umstrukturierung unserer Gesellschaft.« Ilja blickte triumphierend in die Runde. »Mein lieber
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