Russka
leichte Brise, die in den Blättern raschelte, war auf der Lichtung kaum zu spüren. Als Tatjana aber den Bären entdeckte, konnte sie kaum einen Schrei unterdrücken. Er trottete über die Lichtung auf sie zu.
»Ach, Mischa«, sagte der Einsiedler sanft. Er lächelte Tatjana zu. »Er kommt, weil er Honig möchte und weiß, daß er nicht an die Bienenstöcke gehen darf.« Er strich dem Bären liebevoll über den Kopf. »Fort mit dir, du böser Bursche«, sagte er freundlich, und der Bär trollte sich.
Nun setzte Vater Basilius sich wieder. Dann begann er leise zu sprechen, ohne Fragen zu stellen.
»Was unser Leben nach dem Tode anbetrifft, hat der orthodoxe Glaube eine sehr klare Vorstellung. Sie müssen nicht fürchten, daß Sie im Augenblick des Todes Ihr IchBewußtsein verlieren. Das ist nicht der Fall. Sie sehen die vertraute Welt um sich herum, sind jedoch nicht fähig, mit ihr in Kontakt zu treten. Gleichzeitig werden Sie den Geistern derer begegnen, die verstorben sind, wahrscheinlich jenen, die Sie gekannt und geliebt haben. Ihre Seele, von der umklammernden Vergänglichkeit des Körpers befreit, wird lebendiger sein als vorher. Zwei Tage lang haben Sie die Freiheit, durch die Welt zu ziehen. Am dritten Tag jedoch müssen Sie sich einem großen, schrecklichen Verhör stellen. Diesen Tag sollen Sie fürchten. Erst wird Ihnen ein böser Geist, dann ein weiterer begegnen; und das Ausmaß Ihres Kampfes gegen dieses Übel im Leben wird Ihnen Kraft geben – oder auch nicht –, um es zu bestehen. Diejenigen, die versagen, kommen direkt in die Hölle. An diesem Tag bedeuten die Gebete der noch Lebenden eine große Hilfe.« Tatjana blickte den Einsiedler nachdenklich an. Falls sie auf Trost gehofft hatte, so hatte sie ihn nicht gefunden. Wer würde an jenem Tag für sie beten? Ihre Familie vielleicht, der gestrenge Alexej? Der Einsiedler lächelte ihr beruhigend zu. »Ich werde dann für Sie beten, wenn Sie das wollen.«
Tatjana neigte den Kopf. »Vielleicht werden Sie von meinem Tod nichts erfahren.«
»Ich werde es erfahren«, antwortete er. »Nach dem dritten Tag werden Sie siebenunddreißig Tage lang durch Himmel und Hölle ziehen, ohne Ihre eigene Bestimmung zu kennen. Dann wird Ihnen Ihr Platz zugewiesen. Ich erzähle Ihnen das, damit Sie wissen, daß Ihre Seele durch den Tod nicht verlorengeht, sondern unverzüglich in einen anderen Zustand übergeht. Ihr Leben ist nur dazu da, um den Geist für diese letzte Reise vorzubereiten. Machen Sie sich also ohne Furcht bereit. Bereuen Sie Ihre Sünden. Bitten Sie um Vergebung. Sorgen Sie dafür, daß Ihr Geist auf der Schwelle zu seiner Reise demütig ist.« Er stand auf.
Tatjana erhob sich ebenfalls. Er segnete sie und reichte ihr ein kleines Holzkreuz.
Eine Woche darauf fuhr eine bescheidene Kutsche, gelenkt von einem schlechtgekleideten, mürrisch dreinblickenden Kutscher, vor. Darin saßen Sergej und seine Frau. Sergej Bobrov war jetzt Anfang Vierzig und bot das Bild eines Mannes, dessen Fähigkeiten ihm einen bescheidenen Stand eingebracht haben, der sich aber mehr erhoffte. Die beiden literarischen Genies seiner Generation – sein alter Freund Puschkin und der jüngere Lermontov – waren nach einem kometenhaften Aufstieg in der Blüte ihrer Jahre gestorben. Manche sahen in Sergej den Mann, der in seinen mittleren Lebensjahren fortsetzen könnte, was sie in ihrer Jugend begonnen hatten. Es war ihm bisher noch nicht gelungen, diese Hoffnung zu rechtfertigen, und das mochte ein Grund für die tiefen Falten auf seinem Gesicht sein. Sein dunkles Haar lichtete sich über der Stirn. Der dichte Backenbart ergraute; die Augen wirkten müde. Sergej kam nur selten nach Russka, und Tatjana kannte seine ewigen Geldprobleme; aber er beschwerte sich nie. Sobald die beiden im Haus waren und die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht worden waren, nahm Sergej seine Mutter beiseite und sagte: »Ich bin übrigens gekommen, um euch alle um einen Gefallen zu bitten.«
Sein alter Freund Karpenko, der nun in Kiev lebte, hatte Sergej zu einer Reise durch die Ukraine eingeladen, die schwierig, teilweise zu Pferd geplant und für eine Frau nicht geeignet war. Sergej gedachte in zwei Monaten wieder zurück zu sein. Inzwischen wollte er gern seine Frau bei der Familie lassen. Tatjana hätte es unhöflich gefunden, abzulehnen. Am Abendtisch saß eine vergnügte Runde. Tatjana war vor allem froh, Alexej und Sergej miteinander zu beobachten. Sie hatten sich eine eiserne Regel zur
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