Russka
Wahrzeichen aus alten Zeiten war der kleine Hügel des ehemaligen kurgan in einiger Entfernung auf der Steppe.
Rosa ging bis zum Ende des Ortes. Sie hatte eine Zeitlang dort gestanden, als ein Wagen in Sicht kam. Zwei Männer saßen darin: ein großer untersetzter Mann mit einem dichten schwarzen Schnurrbart lenkte den Wagen; daneben ein schlanker, hübscher, ebenfalls schwarzhaariger Junge, ein Jahr älter als Rosa. Es waren Taras Karpenko, ein Kosakenbauer, und sein jüngster Sohn Ivan. Als Rosa ihrer ansichtig wurde, lächelte sie. Seit sie denken konnte, hatte sie mit den Karpenko-Buben und den anderen Dorfkindern gespielt. Ivan war ihr Liebling. Immer schon hatte ihr Vater an Taras gutes Material verkauft, und der stämmige Kosak begegnete der Familie mit Wohlwollen.
Aber auch aus einem anderen Grund hatte Rosas Vater Sympathie bei Taras gefunden. Es war schwer vorstellbar, daß der vierschrötige Bauer der Neffe des illustren Dichters Karpenko war, dessen feine Gesichtszüge aus Zeichnungen oder Drucken in verschiedenen Häusern des Ortes herabblickten. Taras war ungeheuer stolz auf diese Tatsache und erwähnte den Namen seines Onkels im gleichen Atemzug mit dem berühmtesten aller ukrainischen Dichter, dem großen Schevtschenko. Als er feststellte, das Rosas Vater nicht nur eine Ausgabe der Gedichte Karpenkos besaß, sondern sie wirklich schätzte und viele davon auswendig hersagen konnte, klopfte er ihm freundschaftlich den Rücken. Von da ab sagte er jedesmal, wenn von Rosas Vater die Rede war: »Kein übler Bursche«, was Rosas Mutter häufig zu der Feststellung veranlaßte: »Dein Vater versteht's mit den Leuten.« Er war tatsächlich klug im Umgang mit Menschen und verhielt sich oft sehr ungewöhnlich – Verbindungen wie die zwischen ihm und dem Kosaken wurden immer seltener.
Die Zarenherrschaft in der Ukraine wurde nämlich mit jedem Jahrzehnt drückender. Die Zaren schätzten Gleichförmigkeit, die verständlicherweise in dem riesigen Reich nicht immer erreicht werden konnte. In Polen und den westlichsten Teilen der Ukraine hatten sie sich mit den Katholiken abzufinden; da das Imperium sich weiterhin bis nach Asien hin ausdehnte, mußten die Zaren steigende Zahlen von Moslems hinnehmen. Doch soweit das möglich war, sollte alles russifiziert werden. Deshalb erließ 1863 die russische Regierung eine Erklärung, der zufolge die ukrainische Sprache, die von einem Großteil der südlichen Bevölkerung gesprochen wurde, nicht existierte. In den kommenden Jahren wurde alles, was sich der ukrainischen Sprache bediente – Bücher, Zeitungen, Theater, Schulen, selbst ukrainische Musik –, verboten. Die Werke Schevtschenkos, Karpenkos und anderer ukrainischer Nationalhelden verschwanden aus der Öffentlichkeit. Die Intellektuellen sprachen und schrieben Russisch. Während im Norden die Bildung zunahm, verringerte sie sich im Süden, und im späten neunzehnten Jahrhundert waren achtzig Prozent der Ukrainer Analphabeten. Als die beiden Kosaken vorbeifuhren, grüßten Rosa freundlich, Ivan mit fröhlichem Grinsen, sein Vater mit einem verbindlichen Kopfnicken. Rosa war beruhigt. Sie werden nicht hierherkommen. Es gibt keinen Grund, sich zu ängstigen, sagte sie sich. Rosa Abramovitsch war Jüdin.
Bis ins letzte Jahrhundert, ehe Katharina die Große fast ganz Polen vereinnahmte, hatte es im russischen Reich kaum Juden gegeben. Mit diesen westlichen Ländern kam jedoch eine große jüdische Gemeinde zum russischen Gebiet. Was sollte man mit ihnen anfangen? Manche hielten die Juden für unaufrichtig wie die Katholiken, andere bezeichneten sie als halsstarrig wie die Altgläubigen. Jedenfalls waren sie weder Slawen noch Christen – und aus diesem Grunde verdächtig. Wie jedes andere nonkonforme Element im Zarenreich mußten sie zuerst einmal im Zaume gehalten, dann russifiziert werden. Deshalb hatte der Zar 1833 verfügt, daß die Juden sich hinfort nur in einem bestimmten Areal aufhalten durften: im jüdischen Siedlungsgebiet.
Dieser berühmte Bezirk umfaßte einen weitläufigen Bereich, eingeschlossen Polen, Litauen, die westlichen Provinzen, als Weißrußland bekannt, und einen Großteil der Ukraine mit allen Schwarzmeerhäfen – in anderen Worten die Länder, wo die Juden bereits lebten, und einige andere dazu. Der Zweck dieses Siedlungsgebietes war hauptsächlich der, die Einwanderung der Juden in das traditionelle orthodoxe Nordrußland zu begrenzen. Die Juden lebten meist in Städten oder in ihren
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