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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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eigenen Dörfern, den althergebrachten, eng ineinander verflochtenen Schtetl -Gemeinden. Untereinander sprachen sie gewöhnlich Jiddisch. Einige waren Handwerker oder Händler; viele waren arm und wurden zum Teil von ihren Glaubensgenossen unterstützt. Es gab jedoch auch jene, wie etwa Rosas Großvater, die in gewöhnlichen Dörfern wohnten und das Land bestellten.
    Vom Regime wurde ständig Druck ausgeübt. Juden zahlten Sondersteuern; ihr eigenes Regierungssystem in den Gemeinden, Kahal, wurde für ungesetzlich erklärt; ihre Vertretung in örtlichen Wahlen durch unfaire Quoten eingeschränkt; noch spitzfindiger wurden sie zu den Schulen zugelassen, dann wurde ihnen die Konversion nahegelegt. Wenn aber ein Jude zum orthodoxen Glauben übergetreten war, galt er als guter Russe.
    Zahlreiche Juden traten über. Wichtiger noch: Ein allmählicher Assimilierungsprozeß hatte begonnen, denn unter der jüngeren Generation war eine liberale, geistig-jüdische Bewegung entstanden – die Haskala. Sie trat dafür ein, daß Juden aktiver an der nichtjüdischen Gesellschaft teilhaben sollten. Rosas älterer Bruder, der verheiratet war und in Kiev lebte, hatte ihr davon berichtet »Wenn wir Juden überhaupt etwas im russischen Imperium erreichen wollen, sollten wir auf russische Schulen und Universitäten gehen. Wir müssen dazugehören. Das hindert uns nicht, Juden zu bleiben.« Ihr Vater jedoch war sehr mißtrauisch. Obwohl er nicht die Ansicht vieler strenggläubiger Juden vertrat, die sich so weit wie möglich von der nichtjüdischen Welt fernhielten, war er doch gegen die Haskala eingestellt. Wenn Rosas Familie auch auf gutem Fuße mit ihren ukrainischen Nachbarn stand, nahm sie gleichzeitig ihre religiösen Pflichten zusammen mit den übrigen jüdischen Familien der Gegend wahr. Die beiden Brüder Rosas erhielten religiöse Unterweisung, und der ältere erreichte die höchste Stufe, die Jeschiva, also die Talmudschule.
    In einer Ausnahme jedoch wich der Vater von seiner strengen Einstellung ab, und dafür war Rosa Gott dankbar. »Es ist etwas anderes, wenn man in einer russischen Schule Musik studiert«, war seine Ansicht. Das gefährdete den Glauben nicht. Es war die beste Möglichkeit für einen Juden, in Rußland erfolgreich zu sein. Rosa wußte, daß es immer Spannungen zwischen ihrem Volk und den Ukrainern gegeben hatte. Die Ukrainer vergaßen nicht, daß die Juden Vertreter der polnischen Landeigner gewesen waren. Für die Juden andererseits waren diese Leute nicht nur Andersgläubige – die verhaßten Gojim –, sondern zumeist ungebildetes Landvolk. Trotzdem hätten sie in Frieden miteinander leben können, wäre da nicht das ungleiche Zahlenverhältnis gewesen. Tatsächlich hatte sich in der Ukraine in den vergangenen sechzig Jahren die Bevölkerung um das etwa Zweieinhalbfache erhöht, bei den Juden dagegen um mehr als das Achtfache. Und da wurden Rufe laut wie: »Diese Juden nehmen uns die Arbeit weg und ruinieren uns alle.«
    Welche die Gründe dafür auch gewesen sein mochten: Im Jahr der Ermordung des Zaren begannen im gesamten Süden eine Reihe von Unruhen, die die Welt mit einem furchtbaren Begriff konfrontierten: dem Pogrom. Aber doch nicht hier bei uns! Doch nicht in dem stillen Ort an der Grenze zwischen Wald und Steppe! Mit diesem Gedanken machte Rosa sich auf den Heimweg. Nach dem halben Weg bemerkte sie die kleine Gruppe, nur zwei Nachbarinnen und drei Männer, die ihr unbekannt waren, vor dem Elternhaus. Von weitem sah es so aus, als stritten sie. Nun gesellten sich noch zwei Dorfbewohner dazu. Kurz darauf trat Rosas Vater aus dem Haus. Er trug einen langen, schwarzen Mantel und seinen runden, breitkrempigen Hut. Die Ringellöckchen zu beiden Seiten des Gesichts waren schwarz, sein gepflegter Bart dagegen grau. Rosa sah, wie er streng den Finger gegen sie erhob. Da scholl plötzlich ein einzelner Ruf durch die Straße, der sie erschauern ließ. »Jude!« Sie begann zu laufen.
    Als sie die Gruppe erreichte, wurde ihr Vater bereits bedrängt. Einer der Männer stieß ihm den Hut vom Kopf, ein zweiter spuckte vor ihm aus. Die beiden Männer aus dem Dorf machten nach einem halbherzigen Versuch, sie aufzuhalten, einen Rückzieher. Rosa blickte die Straße hinunter.
    Da kamen gerade eben sechs Wagen über die Brücke, und in ihnen saßen etwa fünfzig Mann. Einige trugen Knüppel; ein paar machten einen betrunkenen Eindruck.
    Rosa sah zu ihrem Vater hin, der seinen Hut so würdevoll wie möglich aufnahm,

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