Russka
wenig diese Revolutionäre wissen«, sagte Rosas Vater. Es war nämlich nichts geschehen. Nicht in einem einzigen Dorf, nicht in einer einzigen Fabrik hatte es eine Erhebung gegeben. Das erschütternde Ereignis wurde nur mit großem russischen Schweigen aufgenommen. Der Zarensohn – der dritte Alexander – trat die Thronfolge an und schaffte unverzüglich Ordnung. Viele der Revolutionäre wurden verhaftet, und der größte Teil des russischen Reiches stand während dieser Zeit unter Kriegsrecht. Rußland war ruhig und friedlich. So schien es jedenfalls, bis diese neue furchtbare Sache begann. »Sie kommen nicht hierher«, versprach Rosas Vater. Was aber, wenn er sich irrte?
Es war früher Nachmittag – eine stille Zeit in diesem friedvollen südlichen Dorf an der Grenze zwischen Wald und Steppe. Rosas Eltern ruhten sich im Obergeschoß des soliden strohgedeckten Hauses aus. Obwohl es Herbst war, war es hier unten in der Ukraine immer noch warm. Rosa war ein schönes Mädchen. Ihr blasses ovales Gesicht, ihr langer Hals, eine gemessene Anmut in ihren Bewegungen hatte ihr im Dorf den Namen »das Schwanenmädchen« eingebracht. Sie trug das rabenschwarze Haar nach hinten zu einem dicken Zopf geflochten. Sie hatte eine gerade Nase und volle Lippen, doch das Auffallendste an ihr waren die Augen: unter dunklen Lidern, überwölbt von dichten schwarzen Brauen, waren sie blaugrau, sehr groß und sehr ernst.
Rosa saß am Klavier. Sie spielte in diesem Augenblick nicht, doch das Stück, das sie am Morgen geübt hatte, es war von Tschaikovskij, klang in ihr nach. Ihr gehörte das einzige Klavier im Ort. Sie würde niemals jenen wundervollen Tag vergessen, an dem es auf einem kleinen Kahn den Fluß heraufkam. Ihr Vater hatte ein Jahr lang gespart, um es zu kaufen und es den ganzen langen Weg von Kiev herzubefördern.
Alle Nachbarn hatten sich versammelt und zugesehen, wie er und Rosas zwei Brüder diese Sensation zu ihrem Haus begleiteten. Rosa war erst sieben Jahre alt gewesen, als ein Vetter, ein Musiker, bei ihnen zu Besuch war und den Eltern sagte, sie sei ein Wunderkind. Im Jahr darauf hatte sie während der Schulzeit bei dieser Familie gelebt, in der großen Stadt Odessa an der Schwarzmeerküste, wo es gute Musikpädagogen gab. Sie war bereits einmal öffentlich aufgetreten, und man sagte ihr eine Musikerkarriere voraus. »Wenn nur ihre Gesundheit mitmacht«, sagte die Mutter traurig. Die zermürbende Sorge um ihre schwache Lunge verließ sie selten. Mitunter mußte Rosa tagelang ruhen. »Du wirst der Sache entwachsen«, versprach der Vater. Und wie sie darum betete, daß er recht haben möge! Wie sehr sie sich wünschte, für die Musik zu leben! Aber da war das sonderbare Rätsel, das sie seit Monaten beschäftigte und das sie heute nachdenklich, ja melancholisch stimmte. Wenn es so war, daß Gott sie für ein Leben mit der Musik ausersehen hatte und daß sie für ihn spielen sollte – warum gab es böse Menschen, die vorhatten, sie zu töten?
Am Ostufer des Flüßchens reihten sich die gemütlichen, strohgedeckten Häuser mit ihren getünchten Mauern zu beiden Seiten der breiten, ungepflasterten Straße fast eine Meile lang auf. Einige, darunter ihr Elternhaus, hatten an der hinteren Seite einen kleinen Obstgarten. In der Nähe des Flusses lag ein Marktplatz, etwas weiter flußabwärts befand sich eine Brennerei. Im ärmeren russischen Norden, wo die Siedlungen kleiner waren als in der Ukraine, hätte man einen solchen Ort als Stadt bezeichnet. Durch den blühenden Handel und die natürliche Fruchtbarkeit der Gegend ging es den Bauern gut.
Rosas Großvater war hierhergekommen, um Land zu bebauen. Er war fünf Jahre zuvor gestorben, und ihr Vater hatte den Besitz übernommen. Er war ein unternehmerisch denkender Mann, handelte mit Weizen und war als Handelsvertreter für eine Firma tätig, die in Odessa landwirtschaftliche Geräte herstellte. Inzwischen gehörten sie zu den wohlhabenden Familien des Ortes. Rosa wußte nicht, daß diese Siedlung im Süden in früherer Zeit den Namen »Russka« getragen hatte. Seither hatte sie zwei Namen gehabt. Aus der Vergangenheit war weniges geblieben. Von dem kleinen Fort auf dem Westufer gab es nur noch Spuren im Grasland. Von der Kirche, die die Mongolen niedergebrannt hatten, war nichts mehr zu sehen. Selbst die Landschaft hatte sich verändert. Der Weiher mit den ehemals dort hausenden Geistern war ausgetrocknet. Selbst der Bienenwald war verschwunden. Das einzige
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