Russka
Unfall hingestellt. Wie Natalia und Grigorij drinnen eingeschlossen worden waren, wurde nie geklärt. Es war jedoch festzustellen, daß der örtliche Polizeichef und seine Familie einige Wochen danach alle neue Kleider trugen.
Varja Romanov bekam ihr Kind Ende des Jahres. Das kleine Mädchen wurde auf den Namen Arina getauft. Varja war dem Kind, das ihr die einzige Tochter ersetzte, sehr zugetan. Natürlich konnte es nicht wissen, daß seine Großmutter sich des öfteren über die Wiege beugte und murmelte: »Ich weiß, ich sollte dich aussetzen, aber ich bringe es nicht übers Herz.«
Mischa hatte die Angewohnheit, jedes Frühjahr seine Papiere zu ordnen: Briefe, Notizen, Protokolle der zemstvo -Beamten, unbezahlte Rechnungen… Die Briefe las er noch einmal durch; viele band er in Bündeln zusammen und verstaute sie auf dem Speicher. Es gab viel zu lesen und nachzudenken über das vergangene Jahr. Mischa hatte sich sogar überlegt, einen Bericht über die außergewöhnlichen Ereignisse des letzten Sommers abzufassen. Das einzige Erinnerungsstück unter den Papieren aus dieser Zeit war der Brief von Peter Suvorin, den Popov ihm gegeben hatte. Diesen mußte er auf alle Fälle aufbewahren. Schließlich wußte man nie, ob er ihm in Zukunft nicht gegen die Suvorins von Nutzen sein konnte, und da dieses merkwürdige Dokument mit keinem anderen Schriftstück zusammenpaßte, knüpfte er ein rotes Band darum, machte den Vermerk: »Suvorin – Feuer« darauf und legte es zu den übrigen Briefen in den Speicher.
Einen Tag nachdem er diese Arbeit erledigt hatte, hatte er einen unerwarteten Besucher – Boris Romanov. Der Landbesitzer hatte den jungen Bauern seit längerem nicht gesehen und war erstaunt, daß er ohne seinen Vater kam. Er ließ ihn jedoch in sein Arbeitszimmer führen, lächelte ihn verbindlich an und erkundigte sich: »Nun, Boris, was gibt es?«
Vorsichtig erinnerte Boris ihn an die Armut der Familie, die dringende Notwendigkeit, mehr Land zu bekommen, und ihre Loyalität den Bobrovs gegenüber. Schließlich kam er zur Sache. »Ich denke an letzten Sommer«, sagte er. »Ja, und?«
»Wir hatten eine Abmachung, Herr. Es ging darum, meinem Vater zu helfen und meiner Schwester eine Mitgift zu geben. Meine Schwester ist tot. Wie Sie aber wissen, haben wir wieder ein Kind in der Familie. So habe ich mir gedacht, wenn Sie uns wirklich helfen wollen, wie Sie es gesagt haben, könnten Sie Natalias Mitgift der kleinen Arina geben.«
Mischa blickte ihn nachdenklich an. Die Worte des jungen Mannes hatten einen wunden Punkt bei ihm berührt. Seit jener furchtbaren Nacht im vergangenen Sommer war kein Wort mehr über den üblen Handel gefallen, den er mit den Romanovs abgeschlossen hatte; aber schließlich hatte der Mord sich nicht ereignet; die arme Natalia war tot, und Mischa hatte versucht, die ganze Sache aus seinem Gedächtnis zu streichen. Außer ein bißchen Unterstützung aus seinen Rückzahlungen hatte Mischa es nicht für nötig gehalten, Timofej Romanov eine größere Geldsumme zu geben, und der Bauer hatte auch nicht darum zu bitten gewagt. Doch mehr als einmal hatte Mischa insgeheim gedacht: Tatsächlich haben wir Unglück über die Romanovs gebracht. Irgendwann sollte ich etwas für sie tun. Der Vorschlag des jungen Boris, dem Kind ein Geldgeschenk zu machen, gefiel ihm. Da er die Angelegenheit in seinen Gedanken hin und her wälzte, gab er dem Bauern nicht sofort eine Antwort.
Da machte Boris Romanov einen großen Fehler. Weil er Mischas Zögern falsch auslegte, erklärte er plötzlich: »Nachdem meine Schwester schließlich im Feuer umgekommen ist, wollen wir Sie doch nicht in Schwierigkeiten bringen, Herr.« Mischa starrte ihn verwundert an, dann errötete er. Was, zum Teufel, wußte der Bursche?
In Wirklichkeit wußte Boris gar nichts. Hätte Mischa jedoch eine Vorstellung von dem gehabt, was der junge Bauer argwöhnte, wäre er zutiefst erschüttert gewesen.
Die Behörden hatten das Feuer in Russka als Unfall abgetan; Boris dagegen keinesfalls. Die Erinnerung an seine arme Schwester Natalia verfolgte ihn. Je länger er darüber nachdachte, um so verdächtiger erschien ihm die ganze Angelegenheit. Immer wieder hatte er während des Winters seinen Vater zur Stellungnahme herausgefordert: »Wenn es ein Unfall war, wie kam es dann, daß Natalia und Grigorij drinnen eingesperrt waren? Warum sollte irgend jemand sie umbringen wollen? Vielleicht wußten sie zuviel? Und die Person des Mörders? Dieser
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