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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Deutsches und französisches Kapital strömte zur Finanzierung ehrgeiziger Regierungsprojekte ins Land: Die unermeßlichen Bodenschätze des Reiches wurden erstmals angezapft. Auch Rußlands militärische Macht wurde nicht bezweifelt. Es hatte die Demütigung des Krimkrieges hinter sich gelassen. Obwohl es zwei Jahrzehnte zuvor Alaska an die Vereinigten Staaten verkauft hatte, bedeckte das Reich immer noch den größten Teil der nordeurasischen Ebene zwischen Polen und dem Pazifik. Die Türkei zitterte vor Rußland; das britische Imperium beobachtete die russische Ausdehnung nach Asien hin mit vorsichtigem Respekt; das bröckelnde chinesische Reich in Fernost gab Rußland, was es haben wollte; Japan drängte auf Zusammenarbeit und Handel. Nikolaj war allein im Speisewagen. Er hatte sich gerade Kaviar, Blini und ein Glas Wodka bringen lassen. Es war für vier Personen gedeckt, doch Nikolaj saß allein am Tisch. Er langweilte sich ein wenig. Als der Kellner fragte, ob er noch zwei Herren dazusetzen dürfe, hatte Nikolaj daher nichts dagegen und blickte neugierig auf. Zwei Männer nahmen ihm gegenüber Platz und beachteten ihn kaum. Doch Nikolajs Blick hing wie gebannt an einem der beiden: Jevgenij Popov.
    Nein, es konnte keine Verwechslung sein: die karottenrote Haarmähne, die gleichen grünen Augen. Popov hatte sich kaum verändert, doch in seinem Gesicht zeigte sich eine gewisse Reife, eine ruhige Kraft, die darauf hindeutete, daß er gelitten hatte. Als er Nikolajs Blick bemerkte, sagte er nur: »Nun, Nikolaj Michailovitsch, es ist lange her.«
    Wie sonderbar! Auch wenn sie sich siebzehn Jahre lang nicht begegnet waren, hätte Nikolaj bei seinem früheren Freund doch eine Art von Verlegenheit erwartet. Schließlich hatte Popov ihn auf verletzende Weise ausgenützt und von seinem Vater Geld mehr oder weniger erpreßt. Doch Popov sah weder schuldbewußt noch herausfordernd drein; er fragte Nikolaj lediglich, wohin er reise. Und als er es erfuhr, meinte er nachdenklich: »Ach ja, Russka.« Dann wandte er sich an seinen Begleiter: »Die große Fabrik der Suvorins ist dort, weißt du.«
    Nun blickte Nikolaj den anderen Mann genauer an. Er schätzte ihn Anfang Zwanzig, obwohl sein rötlichbraunes Haar bereits schütter wurde. Der Mann trug einen rötlichen Spitzbart. Kleidung und Haltung ließen auf die Zugehörigkeit zum niederen Provinzadel schließen, und wahrscheinlich war er für eine Karriere als kleinerer Beamter bestimmt.
    »Das ist Vladimir Iljitsch Uljanov«, stellte Popov ihn vor. »Er hat gerade sein juristisches Examen in St. Petersburg gemacht und wird nun als Anwalt arbeiten.« Der Mann erwiderte Nikolajs Gruß höflich und ließ ihm ein winziges Lächeln zukommen. Uljanov? Wo hatte Nikolaj den Namen schon einmal gehört? Wenn sein Haar auch rötlichbraun war, war er unbedingt ein asiatischer Typ von untersetzter Statur, mit gewölbtem Schädel, hohen Backenknochen, Nase und Mund ziemlich breit, unverwechselbar mongolischen Augen. Er sah überhaupt nicht russisch aus. Aber der Name… warum schien er Nikolaj vertraut? Alexander Uljanov – natürlich! Vier Jahre zuvor war ein Student dieses Namens in ein dilettantisches Komplott verwickelt gewesen, in dem es um die Tötung des Zaren ging. Es war der tolle Plan verrückter junger Leute gewesen. Jener unglückliche junge Mann hatte es abgelehnt, sich zu entschuldigen, und mußte mit seinem Leben bezahlen.
    Uljanov. Eine achtbare Familie, erinnerte sich Nikolaj; der Vater ein Schulinspektor einfacher Herkunft, der sich jedoch so weit hocharbeitete, daß ihm und seiner Familie der erbliche Adelsrang verliehen wurde.
    Die Unterhaltung kam nur zögernd in Gang. Nikolaj erkundigte sich nach Popovs Tätigkeiten, dieser jedoch gab ausweichende Antworten. Und Uljanov gab sich damit zufrieden, die beiden schweigend zu beobachten. Nikolaj folgerte aus Andeutungen, daß Popov eine Zeit im Ausland verbracht hatte, aber das war auch alles. Immerhin wäre es schade gewesen, die Gelegenheit ungenutzt vorübergehen zu lassen. Also fragte Nikolaj schließlich geradeheraus: »Sage mir, Jevgenij Pavlovitsch, arbeitest du immer noch für die Revolution, und wann wird sie stattfinden?« Popov zuckte lediglich die Achseln. Gleich darauf stand Uljanov auf und ging für eine Weile hinaus. »Ein interessanter Mensch«, bemerkte Popov. »Woher kommt er?«
    »Aus einer kleinen Provinzstadt im Osten an der Wolga. Er hat einen Besitz dort, einen kleinen mit ein paar armen Bauern. Er ist

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