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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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unabhängiger Gerichte für die Bauern übte. Den besten Ausdruck für die Einstellung dieser Beamten fand der Prokurator des Heiligen Synod, der auf die Frage der Rolle der Regierung in der Erziehung antwortete: »Die Leute müssen daran gehindert werden, etwas zu erfinden.« Rußland war ein Polizeistaat. Und doch ist das vielleicht das Beste, dachte Nikolaj. Es bedeutete zumindest Ordnung. Es hatte zwar ein paar Streiks gegeben, und im Süden hatten Judenpogrome stattgefunden. Das durfte man nicht gutheißen. Aber es hatte keine Bombenanschläge mehr gegeben.
    Tatsächlich ist es so, als habe das russische Reich die vergangenen zehn Jahre unter einer Schneedecke geschlummert, war Nikolajs Ansicht. Vielleicht konnte sich Rußland unter dieser Zarenherrschaft allmählich auf eine neue, andere Zukunft in der modernen Welt vorbereiten.
    In diesem Augenblick überquerte der Schlitten die eisbedeckte Neva. Auf dem gegenüberliegenden Ufer lag das Winterpalais; zur Linken der schmale Turm der Peter-undPauls-Kathedrale in fahlem Licht. Mitten auf dem Eis erhob sich ein hochaufragendes Holzgerüst, über fünfzehn Meter hoch, von dem aus eine steil abfallende, eisbedeckte Bahn nach unten führte. Dies war eins der beliebtesten Wintervergnügen der Stadt – ein Eisberg, wie man die Rutschbahn nannte. Wenige Minuten später befand sich der Schlitten auf dem Südufer, glitt am Palais vorbei, und nach dem Abbiegen kam der großzügig angelegte Nevskij-Prospekt in Sicht. »Straße der Duldung« nannte man ihn damals liebevoll. Dort befanden sich, nahezu Seite an Seite, die Kirchen der holländischen Calvinisten, der deutschen Lutheraner, der römisch-katholischen Gläubigen und der Armenier, ebenso natürlich die der Orthodoxen. In einiger Entfernung vom Prospekt lagen Konzerthallen, Theater und der elegante englische Club.
    Nikolaj lebte seit fast zehn Jahren in St. Petersburg. Er war nicht reich, doch er hatte ein einträgliches Amt in einem Ministerium, wo er sich nur einmal wöchentlich zeigte, und kam mit seinen Einkünften gut zurecht. Er war Mitglied des Yachtclubs, wo es einen ausgezeichneten französischen Chef gab. Häufig führte er seine Frau in eines der vier Opernhäuser der Hauptstadt, wo man zu jener Zeit nicht nur die europäischen Genies hören konnte, die unvermittelt während der vergangenen Jahrzehnte die Welt aufhorchen ließen: Tschaikovskij, Mussorgskij, Borodin, Rimskij-Korsakov. Oder die Bobrovs gingen ins Marjinskij-Theater zu den besten Ballettaufführungen der Welt. Den Sommer verbrachte die Familie in dem hübschen gemieteten Sommerhaus. Einmal im Jahr machte Nikolaj seiner Frau ein Geschenk aus dem Haus des Juweliers Fabergé, der nicht nur die märchenhaften Ostereier für den Zaren herstellte, sondern in seinem Geschäft auch Hunderte entzückender Kleinigkeiten für etwas bescheidenere Geldbeutel wie den des Nikolaj Bobrov bereithielt.
    Im St. Petersburg des Jahres 1891 hatte ein liberal gesinnter Mann wie Bobrov kaum einen Grund, sich um die Zukunft zu sorgen. Dennoch beunruhigte ihn die Aufforderung seines Vaters. In der vergangenen Woche hatte Nikolaj Mischas Brief erhalten.
    Ehrlich gesagt, mein lieber Junge, ist die Lage in den hiesigen Ortschaften verzweifelt, und sie verschlimmert sich. Wir tun, was wir können, doch meine Gesundheit ist nicht mehr die, die sie einmal war, und ich kann kaum noch Schritt halten. Wenn Du irgend kannst, bitte ich Dich in Gottes Namen um Dein Kommen.
    So machte sich an diesem grauen Dezembertag Nikolaj Bobrov mit unguten Vorahnungen auf den Weg nach Russka. Dampfendes Zischen, ein Pfiff, leichtes Knallen wie Trommelwirbel, und der Zug glitt durch die Vorstädte auf die schneebedeckte Ödnis zu. Das war der Expreß von St. Petersburg nach Moskau. In den mit prächtigen Wandbespannungen versehenen und weichgepolsterten Abteilen ließ es sich auf eine derart luxuriöse Weise essen und schlafen wie in keiner anderen Eisenbahn der Welt. Für Nikolaj bedeutete Eisenbahn: Zukunft. In ebendiesem Jahr hatte die Regierung ein kühnes Unternehmen in Angriff genommen – eine Eisenbahnlinie, die sich schließlich über Tausende von Meilen hin von Moskau über die weite eurasische Landmasse bis zum pazifischen Hafen Vladivostok erstrecken sollte: die Transsibirische Eisenbahn.
    Dies war das neue Rußland, die kommende Welt. Riesige Kohlenreserven wurden in den fernen Wüsten und Bergen oberhalb der Mongolei gefördert; in den kahlen Gegenden Ostsibiriens gab es Gold.

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