Russka
Idee: die Synthese, besser als die vorhergehende Idee, doch immer noch unvollendet. So wird aus der Synthese eine These, und alles beginnt von vorn. Die Dialektik weist auf Fortschritte hin. Das war zwingend.
»Der größte Meister der Dialektik war Karl Marx«, erläuterte Popov. »Mit ihrer Hilfe hat er die ganze Menschheitsgeschichte – und auch ihre Zukunft – erklärt.«
Nikolaj lauschte fasziniert, während Popov das System des Marxismus umriß. »Nur die Materie existiert«, begann er. »Sie ist die große Wahrheit, die allem zugrunde liegt. Deshalb wird das Marxsche System als Dialektischer Materialismus bezeichnet. Das materielle Produktionsmittel bestimmt nämlich alles«, führte Popov weiter aus, »wie wir uns ernähren, kleiden, wie wir Bodenschätze fördern und wie wir fabrizieren. Das ganze Bewußtsein des Menschen, seine Gesellschaft, seine Gesetze, alles leitet sich von dieser wirtschaftlichen Struktur her, und in jeder Gesellschaft bis auf den heutigen Tag gibt es grundsätzlich zwei Klassen: die Ausbeuter und die Ausgebeuteten. Jene, die die Produktionsmittel besitzen, und jene, die ihre Arbeit verkaufen.«
»Und die Dialektik?«
»Nun, der Klassenkampf – das ist Dialektik. Denke doch einmal nach: Wer besaß das Land im feudalen Europa? Der Adel. Und die ausgebeuteten Bauern bestellten es. Doch allmählich zerfiel diese Struktur, eine neue Welt entstand: die bürgerliche Welt, die zum Kapitalismus in seiner ganzen Größe führte. Nun sind die Fabrikbesitzer die Ausbeuter, und die Ausgebeuteten sind die Arbeiter – das Proletariat. These und Antithese.«
»Und die Synthese?«
»Das ist die Revolution. Die Arbeiter übernehmen die Produktionsmittel. Der Kapitalismus zerstört sich selbst, und wir treten ins neue Zeitalter ein. Das ist unvermeidlich.«
»Was geschieht im neuen Zeitalter?«
»Zuerst gibt es den Sozialismus. Der Arbeiterstaat besitzt die Produktionsmittel. Später gehen wir auf den vollkommenen Kommunismus zu, wo der Staat bekanntlich nicht einmal mehr gebraucht wird.«
»Wir bewegen uns also immer noch auf die neue Welt zu, von der wir als Studenten geträumt haben?«
Popov nickte. »Ja. Es war jedoch ein Fehler, daß wir im Jahre 74 eine Revolution mit den Bauern machen wollten. Die Revolution kann nur vom Proletariat ausgehen. Der große Unterschied ist, daß wir jetzt, dank Marx, wissen, was wir tun. Wir haben ein Gerüst. Die Revolution ist zur Wissenschaft geworden.«
»Gibt es in Rußland viele Marxisten?« wollte Nikolaj wissen. Popov schüttelte den Kopf. »Bisher nur wenige. Der Führer der russischen Marxisten ist Plechanov, und der lebt meistens in der Schweiz.«
»Und was hat all dies mit der russischen Revolution zu tun?« fragte Nikolaj. »Wie und wann wird sie stattfinden?«
»Es gibt, kurz gesagt, zwei Ansichten darüber. Der formale Marxismus sagt, daß alles zu seiner Zeit geschieht. Zuerst eine feudale Agrarökonomie, dann ein Bürgerstaat. Aus diesem entwickelt sich der Kapitalismus, wird mehr und mehr zentralisiert, bis er schließlich zusammenbricht. Die Arbeiter sprengen ihre Ketten – die sozialistische Revolution findet statt. Eine klare, logische Folge. Rußland ist immer noch rückständig«, fuhr er fort. »Entwicklungsmäßig befindet es sich auf dem Bürgerstadium. Sein Proletariat ist klein. Wenn wir eine eigene Revolution machen würden, würde dadurch wahrscheinlich die Monarchie abgeschafft werden und das Bürgertum an die Macht kommen. Lediglich Europa kann eine sozialistische Revolution führen, und dann könnte Rußland möglicherweise von der neuen, von Europa geschaffenen Weltordnung absorbiert werden.«
»Die Revolution kann also nicht in Rußland beginnen?«
»Dem klassischen Marx nach – nein. Wie ich schon sagte, gibt es zwei Aspekte. Der zweite, den selbst Marx für möglich halten mußte, ist folgender: Was wäre, wenn Rußland tatsächlich einen Sonderfall darstellte? Überlege einmal, Nikolaj – eine morbide Autokratie; ein geschwächter Adelsstand, völlig abhängig vom Zaren und ohne eigene wirtschaftliche Macht; eine kleine, kaum entwickelte Mittelschicht, und ein seit jeher in Kommunen organisierter Bauernstand. Vielleicht könnte in Rußland eine unvermutete Revolution unmittelbar in eine Art Ursozialismus führen. Das weiß keiner.«
»Und wie denkst du darüber?« fragte Nikolaj gespannt. Popov zuckte die Achseln. »Ich habe kein Vertrauen zu den Bauern, wie du weißt. Ich glaube an die Hauptdoktrin von
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