Russka
Marx: Rußland muß zuerst durch einen bürgerlichen und einen kapitalistischen Status. Dann kann die proletarische Revolution folgen.«
»Du glaubst also nicht, daß die Revolution hier ihren Anfang nehmen kann?«
»Nein!«
Nikolaj hatte wohl bemerkt, daß Uljanov sich absichtlich aus der Unterhaltung heraushielt. Nun aber begann er sehr ruhig zu sprechen. »Der Marxismus ist einwandfrei. Wir sollten jedoch daran denken, daß Marx auch ein Revolutionär war, und eine Revolution ist ebenso eine praktische wie theoretische Angelegenheit.« Er nickte Popov zu. »Rußland ist enorm rückständig, natürlich, aber die Industrie ist jetzt auf dem Vormarsch. Die proletarische Klasse wächst. Die marxistischen Grundvoraussetzungen für eine Revolution sind in Rußland vielleicht schon während unserer Lebenszeit gegeben; dann aber muß das Proletariat erzogen und geführt werden. Man wird eine ausgebildete Stammorganisation als Zentrum brauchen, anders ist es nicht zu schaffen.«
»Sagen Sie: Ihre Stammorganisation – sollte sie Mittel zur Förderung einer Revolution einsetzen?«
Der Anwalt strich sich nachdenklich über seinen Bart. »Ich glaube, ja.«
»Auch Terrorismus?«
»Wenn es dem Zweck dient, warum nicht?« fragte Uljanov ruhig zurück.
Nun wechselte das Gespräch auf andere Themen über. Kurz darauf sagte Uljanov, er sei müde und wolle sich zurückziehen. Doch bevor sie sich trennten, kam noch etwas zur Sprache, das für alle Zeit in Nikolajs Gedächtnis haftenblieb. Es war von der Hungersnot die Rede, und er hatte den beiden vom Brief seines Vaters erzählt. »Es stimmt«, antwortete Popov, »die Situation in den Zentralprovinzen ist schrecklich.«
»Man macht einen großen Fehler«, bemerkte Uljanov, »wenn man versucht, die Hungersnot zu lindern. Wir sollten nicht helfen. Sollen die Bauern doch verhungern! Je schlimmer es kommt, um so mehr wird die zaristische Regierung geschwächt.« Das brachte er völlig sachlich vor.
Nikolaj dachte, daß wohl gerade dieser Mangel an Gefühl den sonderbaren Tschuvaschen so ungeheuer stark mache. Sie trennten sich freundlich voneinander. Nikolaj ahnte nicht, daß der Anwalt mit dem schütteren Haarwuchs und dem rötlichen Bärtchen einmal an der Spitze einer Revolution stehen würde. Immer wenn Nikolaj Bobrov sich später an diese wahre Begebenheit erinnerte, dachte er: Das war der Tag, an dem die Revolution begann. Fünf Monate später brach sie tatsächlich aus. Als Nikolaj zu Hause eintraf, fand er eine verzweifelte Situation vor. Im Jahre 1890 hatte es nicht nur in Russka, sondern auch auf dem anderen Besitz der Bobrovs in der Provinz Rjazan eine Mißernte gegeben. 1891 hatten Mischa Bobrov und die übrigen Mitglieder der zemstvo- Kommission versucht, die Situation dadurch zu retten, daß sie die Bauern anhielten, Mischsaat auf die Felder zu bringen.
»Kartoffeln zusätzlich«, war Mischas Ansicht. »Selbst wenn es kein Getreide gibt, haben wir doch etwas zu essen.« Aber die Aktion schlug fehl. Die gesamte Kartoffelernte war verfault, und auch alles übrige war nicht gediehen. Im Herbst war abzusehen, daß eine Hungersnot bevorstand.
Nikolaj wurde rasch klar, daß die Hungersnot für seinen Vater auch eine persönliche Krise bedeutete. Obwohl Mischa bereits siebzig war und seine Gesundheit nicht die beste, hatte er sich mit großem Eifer in neue Aufgaben gestürzt. Er gab zu, daß er als Mitglied des zemstvo -Adels sich in diesen Tagen doppelt belastet fühlte. Nikolaj verstand, was er damit meinte. Seit die zemstvo- Versammlungen von Zar Alexander im Zuge seiner Reformen eingerichtet worden waren, hatte die Regierung die Mitgliedschaft reichlich eigenmächtig gehandhabt. Beispielsweise hatte der gegenwärtige Zar es rundweg abgelehnt, gewählte Männer im Amt zu bestätigen, wenn er an ihrer Loyalität zweifelte. Doch der kritische Moment kam 1890, als der Zar kurzerhand beschloß, die Wahlgesetze zu ändern, und zwar derart drastisch, daß die Zahl der Wahlberechtigten sich oft um mehr als die Hälfte reduzierte und der niedere Adel die große Mehrheit der Kommissionsmitglieder bildete. Es war ein Akt purer Willkür, ein gezielter Schlag ins Gesicht des einfachen russischen Bauern. Nikolaj wußte, daß sein liberal gesinnter Vater davon tief betroffen war: Er hatte sich so sehr um Verbesserungen bemüht, doch erreicht hatte er nichts.
Das war nicht mal sein Fehler. Der zemstvo richtete Getreidevorräte ein; Lebensmittelzuteilungen wurden sorgfältig
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