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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Gutsbesitzer und Adliger in einem. Erinnerst du dich denn nicht an den Namen?«
    Nikolaj erwähnte den hingerichteten Studenten. »Genau. Dieser Mann ist sein Bruder.«
    »Er würde sich selbst nicht an einer solchen Verschwörung beteiligen?« Popov lächelte. »Vladimir Iljitsch ist sehr viel vorsichtiger.«
    Nikolaj machte eine Andeutung über das asiatische Aussehen des Anwalts, und Popov nickte. »Du hast recht. Tatsächlich ist er von der mütterlichen Seite her, soweit ich weiß, teils deutsch und teils schwedisch, doch die Familie väterlicherseits stammt aus Asien. Sie gehörte dem Tschuvaschen-Stamm an.«
    Natürlich! Die Tschuvaschen waren ein alter Stamm asiatischen Ursprungs, an der Wolga angesiedelt, dessen Angehörige häufig rötliches Haar hatten. »Ich war sicher, daß er kein Russe ist«, sagte Nikolaj.
    »Ich bezweifle, ob er überhaupt einen Tropfen russisches Blut in den Adern hat.«
    »Und welches Interesse hast du an ihm?« erkundigte sich Nikolaj. Popov schwieg einen Augenblick, bevor er murmelte: »Ich sage dir nur, Nikolaj, wer dieser Typ auch sein mag – ich habe noch nie einen solchen Menschen getroffen.«
    In diesem Augenblick kehrte Uljanov zurück, und die interessante Unterhaltung brach ab. Nikolaj bedauerte das. Sein Interesse an diesem schweigsamen TschuvaschenAnwalt-Gutsbesitzer war geweckt. Da jedoch wandte Popov sich mit einem leicht ironischen Lächeln an ihn: »Nun, Nikolaj Michailovitsch, du hast mich nach der Revolution gefragt.«
    Noch nach Jahren dachte Nikolaj, daß die folgende Stunde die aufschlußreichste seines Lebens gewesen sein könnte. Popov berichtete ruhig und flüssig. Bald wurde deutlich, daß er großzügiger, weitgespannter in seinen Ideen geworden war im Gegensatz zu früher. Es kamen auch Einzelheiten aus seinem Privatleben zum Vorschein. Er war verheiratet gewesen, aber seine Frau war gestorben. Man hatte ihn für drei Jahre nach Sibirien und für ein weiteres Jahr ins Gefängnis geschickt. Er hatte mehrere europäische Länder, darunter Großbritannien, bereist. Nikolaj wußte, daß im Laufe der Jahre viele russische Radikale ihr Land verlassen und im Ausland leben mußten. Er hatte eine vage Vorstellung von diesem Leben: ständig unterwegs, oft mit gefälschten Papieren und unterschiedlicher Identität; Teilnahme an revolutionären Zusammenkünften, Abfassung von Artikeln für illegale, nach Rußland eingeschmuggelte Zeitungen, sich einen schmalen Lebensunterhalt durch Stundengeben und Übersetzen verdienen, sich von Sympathisanten Geld leihen und sogar stehlen. Während Nikolaj seinem ehemaligen Freund zuhörte, wurde ihm bewußt, daß Popov viel mehr über die Welt wußte als er. Popov berichtete über die radikalen Bewegungen in Westeuropa, von den Arbeitergewerkschaften bis zu den revolutionären politischen Parteien. Nikolaj war vor allem tief beeindruckt von Popovs Sicherheit. Er bemerkte, daß Popov sprach, als sei alles, was geschah, Teil eines konkreten historischen Prozesses, den er sehr wohl verstand. Als Nikolaj diesen Gedanken äußerte, lächelte der andere.
    »Natürlich. Hast du niemals Karl Marx gelesen?« Nikolaj hatte durchaus von Marx gehört. Er versuchte sich zu erinnern. Es war ein deutscher Jude, der lange Zeit in England gelebt hatte und vor wenigen Jahren gestorben war; ein Wirtschaftswissenschaftler und Revolutionär. Sein enger Vertrauter, Engels, war noch tätig.
    Die Werke dieser außerordentlichen Männer erschienen eben erst in Rußland, und Nikolaj mußte gestehen, daß er nichts davon gelesen hatte.
    Marx' Theorien, so erläuterte Popov, leiteten sich von dem großen deutschen Philosophen Hegel ab, dessen Schriften seit Anfang des Jahrhunderts vorlagen. »Sicher erinnerst du dich noch aus deiner Studienzeit an das berühmte Hegelsche Weltsystem, nicht wahr?« meinte Popov vorwurfsvoll.
    »Ich glaube, ja.« Nikolaj durchforschte eilig sein Gedächtnis. »Das war die Dialektik.«
    »Genau. Die Dialektik ist der Schlüssel zu allem.« Nikolaj erinnerte sich jetzt genau – Hegels kosmisches System, das aufzeigte, daß die Welt sich auf ein letztes Stadium der Vollendung zu entwickelt: auf das Absolute. Und der Prozeß, der dazu führt? Es vollzieht sich alles in Stufen – in einem scheinbar endlosen Widerstreit von Ideen, doch jeder Widerstreit bezeichnet einen Schritt nach vorn. Auf diese Weise trifft auf eine These – eine scheinbare Wahrheit – ihr Gegenstück, die Antithese. Aus diesen beiden entsteht eine neue

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