Russka
Vater keine Vorwürfe«, antwortete er. Darauf schwieg er, bis sie wieder draußen auf der warmen, staubigen Straße waren. »Du verstehst nicht, was da vor sich geht, mein Junge. Rußland ist riesengroß, ungeordnet, es steht an den Anfängen. Ein weites Agrarland, wo eine bloß scheinbare Ordnung von einem autokratischen Zaren, von seiner Armee und Polizei, und von einer Minderheit privilegierter Menschen wie du aufrechterhalten wird. Aber das Ganze ist ein ungeheures Trugbild, siehst du das ein? Und zwar – da liegt der Kern –, weil niemand wirkliche Macht hat. Der Zar hat keine Macht, weil seine Armee im Osten steht und er keine echte Verbindung zu seinem Volk hat. Die Regierung ist gegen das Volk. Du und dein Vater, ihr habt keine Macht: ihr hängt mit all euren Privilegien vom Zaren ab. Ich habe keine Macht; ich hänge vom Zaren ab, um die Ordnung und mein Geschäft aufrechtzuerhalten. Das Volk hat keine Macht, weil es nicht organisiert ist und nicht weiß, was es wirklich will.« Suvorin zuckte die Achseln. »Die gegenwärtige Krise zeigt, daß der Zar nicht in der Lage ist, unsere Gesellschaft zu führen oder zu kontrollieren. Und in diesem unendlichen Durcheinander, das wir Imperium nennen, genügt ein Funke, um ein riesiges Feuer zu entfachen. Jeden Tag kann es eine Revolte geben. Totales, unkontrollierbares Chaos.« Er seufzte. »Deshalb tue ich nichts Unüberlegtes.« Suvorin machte eine Pause und fuhr dann fort: »Es gibt zweierlei organisierte Kräfte dort draußen: Zum einen die Bünde, die sich noch formieren und außer den Eisenbahnern alles Professionelle sind – Ärzte, Lehrer und Anwälte; zum anderen die zemstvo -Angehörigen wie dein Vater – die einzigen mit einem Programm. Der Zar muß sich mit ihnen einigen und hoffen, daß das Volk sich wieder beruhigt. Je länger er zögert, desto schlimmer wird es.«
»Aber was ist mit dem Zaren und dem Heiligen Rußland?« rief Alexander. »Die Bauern glauben doch daran!« Suvorin lächelte. »Das mag an den Feiertagen so sein«, antwortete er, »aber nur zwei Menschen glauben jeden Tag an das Heilige Rußland.«
»Und wer ist das?«
»Einmal der Zar selbst, mein junger Freund«, er schmunzelte, »und dann du!« Er neckte den Jungen gern. Während sie ihren Rundgang durch die Stadt fortsetzten, bemerkte Alexander, daß Suvorin nach etwas Ausschau hielt, und er fragte, wonach.
Suvorin lächelte. »Ich schaue nicht nach etwas, sondern nach jemandem. Ist dir nicht aufgefallen, daß wir während unseres ganzen Rundgangs keine Spur von den Leuten gesehen haben, die die Sache angezettelt haben? Aber ich habe herausgefunden, wer es ist – ein einzelner. Sie nennen ihn Ivanov.«
»Werden Sie ihn verhaften lassen?«
»Nein. Ich möchte es zwar, aber das würde noch mehr böses Blut geben.«
»Werden Sie mit ihm sprechen?«
»Ich habe es angeboten, aber er ist mir bisher strikt aus dem Weg gegangen. Er ist ein schlauer Fuchs. Ich möchte ihn gern einmal zu Gesicht bekommen, damit ich ihn später wiedererkenne.« Sie gingen an der Kirche vorbei auf den Marktplatz, und da plötzlich sahen sie ihn. Er stand in etwa hundert Meter Entfernung und sprach mit einigen Männern. Er bemerkte nicht, daß er von Suvorin und dem Jungen beobachtet wurde. Er war ein Mann gegen Ende der Vierzig. Sein Gesicht war glatt rasiert, und die Augenpartie war leicht geschwollen. Das leuchtendrote Haar trug er kurz geschoren. »Das ist er also«, murmelte Suvorin. »Komischer Kauz!« Er würde ihn auf alle Fälle wiedererkennen. Gleich darauf bemerkte der Fremde die beiden und eilte davon.
Auch Alexander prägte sich das Gesicht genau ein. So sieht also der Feind aus, dachte er.
Ivan beobachtete seinen Onkel Boris fasziniert. Dieser hatte sein Eintreten nicht bemerkt. Seit Boris' Gespräch mit einem Mann aus der Suvorinschen Fabrik draußen waren nur wenige Minuten vergangen. Er hatte dabei ziemlich gleichgültig gewirkt. »Ein rothaariger Kerl, sagen Sie? Keine Ahnung! Etwa mein Alter? Ivanov, sagen Sie? Nie gehört! Und wo soll der Kerl sich aufhalten? Geht Suvorin wahrscheinlich aus dem Weg. Ach ja, außerhalb der Stadt. Viel Glück für ihn und für euch alle!«
Jetzt aber wirkte der Onkel gar nicht mehr gelassen. Ivan hatte ihn nie so erregt gesehen wie jetzt, als er in dem großen Lagerraum auf und ab ging und vor sich hin murmelte. »Also tatsächlich Ivanov. Dieser Teufel. Dieser rothaarige Teufel. Mörder! Diesmal kriege ich dich! Diesmal entkommst du mir nicht!
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